Boeser Traum
hatten nur geredet. Stundenlang. Kai war plötzlich aufgetaucht und genauso schnell wieder verschwunden. Ehrlich gesagt, hatte Charlotta nie ganz verstanden, was ihre Freundin an diesem Typen fand. Er war schon achtzehn gewesen, hatte filzige Dreadlocks gehabt, eine kaputte Jeans (vielleicht hatte er auch mehrere Jeans und alle waren kaputt) und den Kopf voll wirrer Träume. Für den hat Emilia damals heimlich die Biege gemacht, überlegt Charlotta. Sie war spät am Abend, als die Mutter schon schlief, heimlich aus der Wohnung getürmt und erst Stunden später wieder aufgetaucht. Beim zweiten Mal war Kai nicht erschienen. Bis drei Uhr hatte Emilia im Park gewartet und war am nächsten Morgen mit einer fetten Bronchitis aufgewacht. Vielleicht ist sie ja gerade unterwegs zu mir, hofft Charlotta und schaut auf die Uhr. Kurz nach elf. Ist wohl noch zu früh. Um diese Uhrzeit geht Dagmar Engels wohl kaum ins Bett. Vielleicht ist sie auch ausgerechnet heute mit ihrem Ex weg und kommt erst spät heim. Das wäre total unpassend. Aber so ist es wahrscheinlich, sonst wäre Emilia doch sicher schon hier. Charlotta wechselt ihre Sitzposition. Schon jetzt tut ihr alles weh, aber sie kann sich nicht überwinden, sich unten auf den Boden zu legen.
Sie ändert wieder die Position, lehnt sich mit dem Rücken an die Wand, streckt die Beine auf der Betonstufe aus. Sie spürt, wie die feuchte Kühle in sie kriecht, die Schwärze um sie herum an ihr frisst. Wie gerne wäre sie jetzt in ihrem Bett! Vielleicht würde Niklas heute Nacht wieder zu ihr kriechen und sich an sie schmiegen. Das tat er nicht mehr oft, aber doch immer mal wieder schlüpfte er nachts unter die Decke seiner Schwester. Was, wenn er auch heute Nacht zu ihr kommen will? Was haben die Eltern ihm wohl erzählt? Wahrscheinlich, dass sie bei Emilia schläft. Sie reibt sich über die Augen. Sie muss sich darauf konzentrieren, die Augen geschlossen zu halten. Wenn man mit geöffneten Augen nur alles verschlingende Dunkelheit sieht, fällt man in ein schwarzes Loch. Dann fehlt plötzlich oben und unten, hinten und vorn. Sie stellt sich ihre Eltern vor. Ihre Mutter wird Angst haben. Genauso wie es Emilia vorhergesagt hat. Aber was ist mit ihrem Vater? Wahrscheinlich wird er nur wütend sein. Er wird seine Frau anmeckern, dass sie Charlotta am Vormittag noch mal hat wegfahren lassen. Falls das Rad noch nicht gefunden wurde, werden sie im schlimmsten Fall noch davon ausgehen, dass ihre Tochter einfach nur abgehauen ist. Obwohl: Sie werden mittlerweile ihr Zimmer durchstöbert haben. Charlotta macht sich keine Illusionen, deswegen hatte sie auch alles, wirklich alles, was irgendwie persönlich war, in eine Kiste getan und die ganz hinten im Keller versteckt. Wird ihre Mutter merken, dass keine Klamotten fehlen? Keine Schminke? Wie gut kennt sie ihre Tochter und deren Kleiderschrank und Kosmetikbeutel? Das Abenteuer währt noch keine zwölf Stunden, und schon jetzt hofft Charlotta, dass es bald zu Ende ist. Sie zieht die Knie wieder an, legt die Stirn drauf. Ihr wird langsam bewusst, dass sie ab sofort immer ein Geheimnis vor ihren Eltern haben wird. Sie wird niemals die Wahrheit sagen können. Auch nicht in zehn oder zwanzig Jahren. Der Gedanke lässt sie innerlich abstürzen. Von diesem Moment an wird es für immer eine ganz dünne Wand zwischen ihnen geben. Die absolute Nähe ist vorbei. Sie bekommt einen bitteren Geschmack auf der Zunge, eine schwere Kraft zieht ihr Herz zusammen. Es gibt Wahrheiten, die kann man irgendwann zugeben. Irgendwann, wenn genug Zeit verstrichen ist. Da kann man zusammen lachen über blöde Lügen oder geschwänzten Konfirmationsunterricht. Das hier zählt nicht dazu. Da könnte die Zeit Purzelbäume schlagen und doppelt so schnell wie sonst vergehen. Das kann sie in fünfzig Jahren ihren Eltern nicht erzählen. Sie fühlt sich plötzlich ein bisschen erwachsener. Als würde jetzt in dem schwarzen, feuchten Keller mitten im Nichts ein neues Leben anfangen.
Mehr als ein alter Igel
U we und Claudine sind wach, ehe das erste Klingeln endet. Claudine ist als Erste am Telefon.
»Charlotta?«, ruft sie ängstlich.
Ihre Schultern straffen sich, sie presst den Hörer fester an ihr Ohr. In der Nähe des Bahnhofs sei ein junges Mädchen aufgegriffen worden. Auf die würde die Beschreibung der Vermissten passen. Jeans, weiÃes Shirt, lange
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