Boeser Traum
wenn sie wieder da ist.«
»Und wann ist sie wieder da?«
Die Eltern gucken sich an. »Wenn wir uns jetzt mit dem Abendessen beeilen, schafft sie es nicht rechzeitig und du darfst die ganze Fleischwurst alleine aufessen«, sagt Uwe Brandt endlich.
»Ich kann nicht schlafen, wenn Charlotta noch nicht zu Hause ist«, verkündet Niklas nach dem Abendessen, als er ins Bett soll. Dabei hatten sich die Eltern so eine groÃe Mühe gegeben, den Jungen während des Essens abzulenken, damit er den Umstand, dass Charlotta fehlt, vergisst. Uwe Brandt nickt und blickt seinen Sohn nachdenklich an. Dann tut er so, als räume er noch in dem Zimmer auf, dabei holt er unauffällig das Handy aus seiner Hosentasche, lässt die Nummer unter »Zuhause« wählen. Als es unten im Flur klingelt, hört er seine Frau kurz aufschreien und merkt, dass das ein Fehler war. Er läuft runter, nimmt seiner Frau den Hörer aus der Hand, in den sie immer wieder »Hallo?« ruft.
»Das war ich. Erkläre ich dir später.«
Wieder oben sagt er zu Niklas: »Du, das war die Charlotta. Sie ist bei einer Freundin. Sie hatte mir das heute Morgen auch erzählt, aber ich hatte das irgendwie vergessen. Sie kommt auf jeden Fall gleich. Du kannst jetzt beruhigt einschlafen.«
Niklas schaut ihn prüfend an. Nimmt dann entschlossen seinen Pandabär in den Arm und dreht sich zur Wand.
»Was sollte das?«, fährt seine Frau ihn an, als er ins Wohnzimmer kommt.
»Claudine. Wenn du auf das Display geschaut hättest, hättest du gesehen, dass ich das war.«
»Ich habe aber nicht auf dieses blöde Display geguckt«, zischt sie.
»Ich musste für Niklas eine kleine Notlüge stricken. Ich habe ihm erzählt, dass das Charlotta am Telefon war.«
Sie nickt müde. Das alles strengt sie fürchterlich an. Und sie hat keine Ahnung davon, wie müde sie noch werden wird.
Uwe Brandt schaltet den Fernseher an, beide sitzen davor, merken gar nicht, was sie da sehen. Immer wieder gucken sie abwechselnd so unauffällig wie möglich zur Uhr. Als irgendeine froh gelaunte Show zu Ende ist und alle Protagonisten sich zum groÃen Finale auf der Bühne versammeln, steht Uwe Brandt auf.
»Ich rufe jetzt noch mal bei der Polizei an«, sagt er sehr gefasst.
Claudine drückt den Aus-Knopf und nickt. Ihr Mann geht in den Flur, kommt zwei Minuten später zurück, das Telefon noch in der Hand. »Was hatte Charlotta heute an?«, fragt er.
Claudine springt auf. »Haben sie ein Mädchen gefunden?«
»Nein. Nein. Sie wollen eine Beschreibung von ihr an alle Streifenwagen und so geben.«
Die Mutter überlegt, versucht sich die Situation von heute Morgen noch mal ins Gedächtnis zu rufen. War das wirklich erst heute Morgen?
»Eine hellblaue Jeans, so ein pink-grün-gestreiftes Shirt und wahrscheinlich die Sneakers«, sagt sie nach ein paar Sekunden.
Ihr Mann gibt die Infos weiter, fügt noch an, dass Charlotta circa eins siebzig groà ist, eine schlanke Figur und lange blonde Haare hat. Er legt auf und geht nach oben. Mit der Bettdecke im Arm kommt er wieder runter. Er setzt sich auf die Couch, seine Frau kuschelt sich an ihn und unter die Decke. Sie möchte sich so gerne verkriechen. Beide ahnen schon, dass sie in der Nacht kein Auge zumachen werden.
Mit offenen Augen das Nichts sehen
C harlotta geht es ähnlich und doch ganz anders. Sie hockt auf der Treppe, hat sich eine Decke wie einen Umhang über die Schultern gelegt. Ihre Arme umschlingen ihre Knie. Ab und zu fallen ihre Augen zu und sie fällt in einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Merkwürdige Bilder ziehen durch ihren Kopf, Töne sind auch dabei. Manchmal schreckt sie auf von einem solchen Ton und weià dann nicht, ob das wirklich nur in ihrem Kopf stattgefunden hat. War das vielleicht doch drauÃen? War es ein Tier? Oder vielleicht, vielleicht Emilia? Ganz leise hofft Charlotta, dass sie schon in der Nacht kommen wird. Dass sie eine Möglichkeit findet, sich heimlich rauszuschleichen. Zweimal hat sie das schon gemacht. Vor einem Jahr, als die Sache mit Kai war. Emilia hatte ihrer Freundin erzählt, wie sie es geschafft hat, aus dem Haus zu kommen, ohne dass die Eltern oder Sophie etwas bemerkt haben. Als es mit Kai vorbei war, hatte Emilia echt ein paar Tage gebraucht, um wieder sie selbst zu werden. Dabei war zwischen den beiden gar nichts gelaufen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher