Boeser Traum
Triebtäter sie in der Gewalt hat, könnte er sie umbringen?«, formuliert es Uwe Brandt.
»Ich persönlich glaube nicht an die Triebtäterversion. Für diese Hypothese ist Ihre Tochter eigentlich zu alt«, sagt Peters ruhig.
Er weiÃ, dass das Eis, auf dem er geht, ganz dünn ist. Wenn Eltern mit der Möglichkeit konfrontiert werden, dass ihrem Kind Gewalt â im schlimmsten Fall sexuelle Gewalt â angetan wird, rasten die meisten einfach aus. Er kann es verstehen und muss trotzdem ruhig und sachlich bleiben. »Wir möchten die Suche räumlich ausweiten. Es ist mittlerweile so viel Zeit verstrichen, dass Charlotta Hunderte von Kilometern entfernt sein könnte. Vielleicht ist sie sogar im Ausland.«
Irgendwo in Frankreich
C harlotta ist Hunderte Kilometer entfernt â zumindest in Gedanken. Sie hat das Blut aus der Wunde abgeleckt, hatte danach sogar ein bisschen weniger Durst, und liegt immer noch auf dem Boden. Sie hat sich auf den Rücken gedreht, sieht einen Zweig mit Blättern, der sich leicht im Wind bewegt. In ihren Gedanken liegt sie auf einer Wiese in Frankreich. Mats liegt neben ihr, seine Hand tastet nach ihrer. Obwohl es warm ist, sind seine Finger nicht feucht. Sie haben ein Picknick gemacht, die Räder liegen übereinander im Gras. Irgendwann wird Mats ihr einen Teil seiner Ohrstöpsel geben und sagen: »hör mal«. Er wird den anderen Stöpsel haben, deswegen liegen ihre Köpfe ganz nah nebeneinander. Er wird ihr einen Song vorspielen, den sie liebt. Nicht zu kuschelig, nicht zu heavy. Irgendwas mit viel Gitarre. Sie träumt nicht von Kussszenen oder mehr. Völlig unnötig. Irgendwann werden sie aufstehen und zurückfahren zu ihrer Familie. Am Abend werden sie noch am Strand spazieren gehen. Sie wird Steine über das Wasser flitschen lassen und besser sein als er. Sie erwischt sich dabei, dass sie anfängt, sich zu freuen. Als könnten ihre Bilder Wirklichkeit werden. Als gäbe es die Befürchtung, in diesem Loch zu verrecken, nicht. Es war fast ein kleines Lächeln in ihr. Die Wahrheit trifft sie wie eine eiskalte Dusche. Sie steht steif auf. Das rechte Bein schmerzt, der zerschnittene Arm auch, im Daumen, wo der Nagel sehr tief eingerissen ist, pocht es heftig.
Sie setzt sich wieder auf die Treppe. Legt den Kopf auf die Knie, schlieÃt die Augen. Sie muss jetzt flüchten. Ganz schnell. Zumindest in Gedanken.
Wo ist Tim wohl gerade? Wahrscheinlich ist es schon spät genug, die Geburtstagsparty ist vorbei, er kann nach Hause kommen. Er schlieÃt die Wohnungstür auf und stutzt. Es ist zu still. Der Fernseher läuft nicht. Er ruft ein »Hallo« Richtung Küche, geht in sein Zimmer und fühlt es wie eine Ohrfeige. Laptop und Anlage sind weg. Wie Wunden sehen die leeren Plätze aus. Was wird sein Vater dafür an Kohle bekommen haben? So gut wie nichts. Es war es ihm offenbar trotzdem wert. Er setzt sich aufs Bett, sitzt da immer noch, als es schon dunkel geworden ist. Irgendwann kommt seine Mutter rein. Sie bleibt unschlüssig im Türrahmen stehen.
»Sobald wir das Geld haben, lösen wir die Sachen wieder aus«, verspricht sie in die Stille. Tim nickt nur. Tut ihr zuliebe so, als würde er ihr glauben. Sie hat die Tür schon fast geschlossen, als er doch noch was sagt: »Schreib mir für die nächsten Tage eine Entschuldigung.«
Auf der StraÃe
O hne zu frühstücken, verlässt Tim am Sonntag das Haus . Er muss einfach laufen. Die einzige Möglichkeit für ihn, diese ganzen Stimmen in sich ruhig zu bekommen. Er rennt durch den Park. Runde für Runde. Der Park ist so groÃ, dass er David nicht sieht. Auch der läuft. Die Enttäuschung über seinen Freund nagt immer noch an ihm. Er hatte einen ScheiÃgeburtstag. Er hat diese Frage, warum Tim sich so mies verhält, einfach nicht aus seinem Kopf bekommen. Was soll diese Lügerei?
Tim kommt spät nach Hause. Erst gegen Mittag. Er duscht, isst einen groÃen Teller Nudeln ohne Sauce und setzt sich wieder auf sein Bett. Genau dahin, wo er gestern schon gesessen hat. Er bleibt da bis zum Abend sitzen, dann zieht er sich aus, putzt die Zähne, legt sich aufs Bett und wartet darauf, endlich einzuschlafen. Den Wecker hat er auf halb sieben gestellt. Er will die Entschuldigung bei der Schule einwerfen, ehe die ersten Lehrer vorfahren. Er hat keine Lust, irgendjemanden zu sehen. Den Wecker hätte
Weitere Kostenlose Bücher