Boeser Traum
zugewandt. Tim geht langsam weg. Am liebsten wäre er reingegangen, hätte Davids Mutter gefragt, ob er mal kurz duschen und frische Klamotten haben kann. Dann hätte er sich auf Davids Bett gelegt und geschlafen. Wahrscheinlich hätte Davids Mutter das sogar erlaubt.
Er geht Richtung Park. Vier Stunden muss er noch totschlagen.
Ausgeschlachtet
W er ist da?« Die Stimme aus dem kleinen Lautsprecher klingt ängstlich.
»David«, sagt er laut.
Tims Mutter drückt den Türöffner. Zwei Minuten später steht David vor ihr. »Ist Tim da?«
Erst jetzt fällt ihm auf, wie alt Tims Mutter aussieht. Und müde. David hört den Fernseher im Wohnzimmer. Ihm ist klar, dass Tim da vor der Glotze abhängen wird. Wer sonst?
»Ah, ich höre schon, wo er ist«, lacht er und will an Tims Mutter vorbei ins Wohnzimmer.
Die stellt sich blitzschnell vor die Tür. »Nein, Tim ist nicht da. Vielleicht willst du in seinem Zimmer auf ihn warten?«, schlägt sie schnell vor. Sie weià nicht, wen sie mehr schützen will. David vor dem Anblick ihres Mannes im Schlafanzug mit Bierflasche in der Hand vor dem Fernseher. Oder ihren Mann vor dem bestimmt sehr bestürzten Blick des Jungen.
Zögernd geht David in Richtung Tims Zimmer. Irgend was stimmt doch hier nicht. Er öffnet die Tür und erschrick t. Wo sind Tims Sachen? Wo der Fernseher, die Anlage, der Computer? Das Zimmer sieht aus wie ein ausgenommenes Tier. Er lässt sich auf das Bett fallen, die Decke müffelt. Eine Stunde sitzt er da, guckt sich immer wieder um, fassungslos. Hat Tim seine Sachen verkauft? Wozu brauchte er das Geld? Hat Tim ein Drogenproblem? Das kann David sich beim besten Willen nicht vorstellen â dazu ist Tim zu sportlich. Oder hat er sich etwa so synthetische Drogen besorgt?
David geht wortlos. Ãffnet nicht die Tür zum Wohnzimmer, nicht zur Küche. Er will gar nicht wissen, wie es hinter diesen Türen aussieht. Leise zieht er die Wohnungstür zu, geht in Gedanken verloren nach Hause.
Maya freut sich. Die Puppen langweilen sie schon so. »Baust du eine Burg mit mir?«
David nickt und lässt sich auf den Rand des Sandkastens fallen. Lustlos schippt er auf Befehl von seiner kleinen Schwester einen riesigen Haufen zusammen. Die Gedanken in seinem Kopf jagen sich. Was ist passiert bei Tim? Seit wann ist das wohl schon so? Wie lange hat Tim ihm irgendeinen Scheià vorgegaukelt? Er ist enttäuscht, irritiert.
»Hier machen wir einen Burggraben hin«, befiehlt die Schwester.
Er nickt nur wie betäubt.
Sie hat nicht vergessen, was sie David eigentlich ausrichten soll. Sie hat Tims Stimme noch ganz genau im Ohr. Er klang irgendwie gepresst. Aber wenn sie David jetzt die Nachricht überbringt, ist der doch gleich wieder weg. Und sie sitzt wieder alleine im Garten. Sie beschlieÃt zu vergessen, was sie ausrichten sollte. So schlimm wird es schon nicht sein. Tim und David sehen sich andauernd. In der Schule. Am Nachmittag. Beim Sport.
So wie ich und Emilia uns andauernd gesehen haben, blitzt es kurz quer durch Charlottas Kopf. Wissen wir alles voneinander?
»Komm, wir dekorieren alles noch mit kleinen Steinen«, lacht Maya ihren Bruder an.
Zehn nach sieben. Tim kann nicht glauben, dass David nicht kommt. Er sitzt seit sechs Uhr hier, hat die Zeit runtergezählt. Die letzten zehn Minuten hatten sich wie eine Religionsstunde gezogen. Er wartet bis halb acht. Dann hält er es nicht mehr aus. Er steht auf, streckt seine Beine aus und geht etwas staksig nach Hause. Seine Mutter erwartet ihn mit einem fiesen Eintopf aus vielen Kartoffeln und wenigem billigem Fleisch und der Nachricht, dass David am Nachmittag da gewesen sei. »Er hat eine Zeit lang in deinem Zimmer gewartet. Dann ist er gegangen.«
Tim wird schlecht, dabei hat er noch gar nichts von dem Eintopf gegessen.
Er geht in sein Zimmer, sieht es durch die Augen des Freundes und fühlt sich so schäbig. Was muss David angesichts dieser verstaubten Armut gedacht haben? Hat gar sein Vater ihn mit Bierfahne begrüÃt? Tim setzt sich auf den Teppichboden, lehnt sich ans Bettgestell. Und er hat sich gewundert, dass David nicht gekommen ist. Kein Wunder. Er muss angewidert gewesen sein. Lange war er bestimmt nicht in dem Zimmer. Es muss ihn geekelt haben. Tim fühlt sich, als würde eine Tür in ihm zufallen. Laut. Unwiderruflich. Der Weg dahinter â Abitur, Studium, Partys â ist
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