Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
emotionslose Gleichgültigkeit, mit der sie auf die Nachricht vom Überfall auf ihre Mutter reagiert hatte. Das war nicht normal. Ähnlich karg war die Reaktion von Vinzenz Kornbichler ausgefallen. Anfänglich hatte der Mann einen offenen und aufrichtigen Eindruck gemacht, der sich allerdings im Laufe des Gesprächs ins Gegenteil verkehrt hatte. Er hätte nicht erzählen müssen, dass er am Mittwoch bereits schon einmal am Haus seiner Frau gewesen war. Damit hatte er sich verdächtig gemacht. Unabsichtlich? Oder hatte ihn der Offenbarungsdrang getrieben, den viele Täter verspüren, wenn das schlechte Gewissen erdrückend wird?
Wohin war Hanna Herzmann mit dem Unbekannten gefahren, nachdem ihr Mann die Verfolgung hatte aufgeben müssen?
Die Geschichte von Vinzenz Kornbichler stimmte insofern, als dass er tatsächlich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag um 1:13 Uhr an der Autobahnraststätte Weilbach getankt hatte, das bewies die Videoaufzeichnung der Tankstelle, sein Alibi für Donnerstagnacht – das Bistro in Bad Soden – sollte heute von Kollegen überprüft werden. Der Rest konnte wahr sein oder auch nicht.
Bodenstein las zum wiederholten Mal das vorläufige Protokoll der rechtsmedizinischen Untersuchung von Hanna Herzmann. Wie mochte es ihr jetzt gehen? Ob sie schon aus der Narkose erwacht war und begriffen hatte, was ihr zugestoßen war? Physisch würde sie sich vielleicht wieder erholen, aber Bodenstein bezweifelte, dass sie diese Misshandlung jemals seelisch verarbeiten konnte.
Ihre Verletzungen ähnelten denen, die das tote Mädchen aus dem Main davongetragen hatte. Was mussten das für Monster sein, die zu einer solch bestialischen Brutalität fähig waren? Seit über zwanzig Jahren beschäftigte Bodenstein sich mit Mördern und Totschlägern, und er hatte nie nachvollziehen können, was einen Menschen dazu brachte, einen anderen Menschen zu töten. Erst als er selbst in eine Situation geraten war, in der er aus Verzweiflung, Demütigung und Hilflosigkeit die Beherrschung verloren und seine eigene Frau angegriffen hatte, hatte er begriffen, wie schnell man zum Mörder werden konnte. Er hatte sich entsetzlich geschämt und seinen Übergriff bitter bereut, doch seitdem verstand er, was in einem Affekttäter vor sich gehen mochte. Nicht, dass er ein solches Verhalten jemals entschuldigen oder Frust und Zorn als Rechtfertigung für die Auslöschung eines Menschenlebens gelten lassen würde, aber es war noch eher nachzuvollziehen als ein solcher Gewaltexzess, wie ihn Hanna Herzmann oder dieses junge Mädchen, das sie die »Nixe« nannten, erlebt hatten.
Bodenstein stieß einen Seufzer aus. Er setzte seine Lesebrille ab, gähnte und rieb sich seinen schmerzenden Nacken. Draußen war es dunkel geworden, es war spät, schon nach elf. Der Tag war lang gewesen, Zeit, nach Hause zu fahren.
Gerade als er die Schreibtischlampe ausgeknipst hatte und sein Jackett überzog, klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Eine Nummer mit Hofheimer Vorwahl. Bevor die Rufumschaltung den Anruf auf sein Handy umleiten konnte, nahm Bodenstein den Hörer ab und meldete sich.
»Guten Abend, hier spricht Katharina Maisel«, sagte eine Frau. »Sie haben heute mit meinem Mann gesprochen, wir sind die Nachbarn von Frau Herzmann. Bitte entschuldigen Sie die späte Störung.«
»Kein Problem«, erwiderte Bodenstein und unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin eben nach Hause gekommen, und mein Mann hat mir erzählt, was Schreckliches geschehen ist.« Aus der Stimme von Katharina Maisel klang die Nervosität, die die meisten Menschen erfasst, wenn sie mit der Kriminalpolizei telefonieren. »Ich habe etwas beobachtet. Das habe ich zuerst nicht für ungewöhnlich gehalten, aber jetzt … vor dem Hintergrund …«
»Aha.« Bodenstein ging um seinen Schreibtisch herum, schaltete die Lampe wieder ein und setzte sich. »Erzählen Sie. Was haben Sie gesehen?«
Frau Maisel war gegen zweiundzwanzig Uhr im Garten gewesen und hatte die Blumenbeete gewässert. Dabei hatte sie am Haus von Hanna Herzmann einen Mann beobachtet, den sie vorher noch nie gesehen hatte. Er war mit einem Motorroller gekommen, hatte eine Weile am Waldrand gewartet. Nach etwa zehn Minuten hatte er bemerkt, dass sie misstrauisch zu ihm hinübergeschaut hatte. Daraufhin hatte er etwas in den Briefkastenschlitz in der Haustür von Hanna Herzmanns Haus geworfen und war wieder davongefahren.
»Das ist ja interessant.«
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