Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
hatte, war sie ziemlich heruntergekommen gewesen, der Hof und die Scheune vollgestellt mit altem Gerümpel und Schrott. Es hatte Monate gedauert, bis sie alles entsorgt, Rankgitter angebracht und Beete angelegt hatte, aber nun war aus dem Hof das Paradies geworden, das sie sich damals vorgestellt hatte. An der Hausmauer wuchsen Kletterrosen in üppiger Fülle, der Pavillon im hinteren Teil des Hofes verschwand beinahe unter den zartrosa Blüten ihrer Lieblingsrose, der New Dawn, die ganz leicht nach Apfel duftete.
Auf dem runden Gartentisch mit der Mosaikplatte, den sie im Sperrmüll gefunden und wieder aufgearbeitet hatte, dudelte ein Radio vor sich hin, und Leonie summte die Melodie mit, während sie die Hortensien goss, die in Kübeln und Weidenkörben im Halbschatten prächtig gediehen. Das menschliche Leid, mit dem sie Tag für Tag konfrontiert wurde, ließ sich trotz aller Professionalität häufig nicht einfach ausblenden, der Garten im Hof war der beste Ausgleich für ihre Arbeit. Beim Rosenschneiden, Düngen, Umtopfen und Wässern konnte sie ihre Gedanken schweifen lassen, entspannen und neue Kraft sammeln. Nachdem sie die Pflanzen gewässert hatte, machte sie sich daran, die abgeblühten Blüten der Geranien auszuzupfen.
»Frau Verges?«
Leonie fuhr erschrocken herum.
»Entschuldigung«, sagte der Mann, den sie noch nie gesehen hatte, »wir wollten Sie nicht erschrecken. Aber Sie waren so vertieft in Ihre Arbeit, dass Sie das Klingeln wohl nicht gehört haben.«
»Die Klingel hört man hier draußen nicht«, erwiderte Leonie und musterte ihre Besucher misstrauisch. Der Mann war schätzungsweise Mitte vierzig, er trug ein grünes Polohemd und Jeans und seine fehlende Körperspannung war ein Zeichen dafür, dass er die meiste Zeit sitzend an einem Schreibtisch verbrachte. Er war weder besonders attraktiv noch auffallend hässlich, ein freundliches Durchschnittsgesicht mit einem wachen Blick. Die Frau war bedeutend jünger als er. Sie war sehr mager, ihr spitzes Gesicht schien nur aus stark geschminkten Augen und knallroten Lippen zu bestehen. Wie Zeugen Jehovas, die meistens im gemischten Doppel auftraten, sahen sie nicht aus. Leonie war nicht nach Besuch zumute, sie ärgerte sich, dass sie das große Hoftor nicht geschlossen hatte.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie und warf die welken Geranienblätter und Blüten in einen Eimer. Oft verirrten sich Kunden der gegenüberliegenden Bäckerei zu ihr, weil sie glaubten, ihr Hof sei eine Gärtnerei.
»Ich bin Meike Herzmann«, antwortete die junge Frau, »die Tochter von Hanna Herzmann. Das ist Dr. Wolfgang Matern, der Programmdirektor des Senders, für den meine Mutter arbeitet und ein guter Freund.«
»Aha.« Leonies Misstrauen wuchs. Woher kannten die beiden ihren Namen und ihre Adresse? Hanna hatte ihr hoch und heilig versprochen, mit niemandem über die Sache zu sprechen!
»Meine Mutter ist Donnerstagnacht überfallen und vergewaltigt worden«, sagte Meike Herzmann. »Sie liegt im Krankenhaus.«
Sie schilderte in knappen Worten, was ihrer Mutter zugestoßen war, ließ kein widerwärtiges Detail aus, dabei blieb sie vollkommen sachlich, ohne jede Empathie. Leonie spürte, wie eine Gänsehaut über ihren Rücken lief. Ihre dunkle Vorahnung, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, bewahrheitete sich. Sie hörte schweigend zu.
»Das ist ja schrecklich. Aber was wollen Sie jetzt von mir?«, fragte sie, als Meike verstummte.
»Wir dachten, Sie wissen vielleicht, woran meine Mutter gerade gearbeitet hat. Sie haben ihr vor anderthalb Wochen eine E-Mail geschrieben, dass eine Patientin von Ihnen bereit wäre, sich mit meiner Mutter zu treffen. Und Sie erwähnten jemanden namens Kilian Rothemund.«
Leonie wurde eiskalt, gleichzeitig begann es in ihrem Innern zu kochen. Hatten sie Hanna nicht eindringlich genug klargemacht, wie gefährlich diese ganze Sache war? Trotz aller Warnungen musste sie mit jemandem gesprochen und ihre E-Mails in einem frei zugänglichen Computer gespeichert haben! Verdammt, damit hatte sie alle in Gefahr gebracht und den sorgfältig ausgeklügelten Plan womöglich zerstört. Sie hatte von Anfang an kein gutes Gefühl dabei gehabt. Hanna Herzmann war eine geltungssüchtige Egoistin, in ihrer Überheblichkeit fest davon überzeugt, unantastbar zu sein. Leonie konnte kein Mitleid mit ihr empfinden.
»Ich habe durch Zufall eine Adresse in Langenselbold gefunden«, fuhr Meike fort. »Das ist ein Aussiedlerhof, wohl das
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