Böses Blut
Er hat die Rolle in der ersten Reihe erreicht. Seine Handlungen spiegeln nicht mehr die der Stärkeren, er ist der Stärkere. Und jetzt kann es unbegrenzt weitergehen.
Der Kentuckymörder ist also ein weißer Mann in Chefposition, der sich gegen alle Widerstände dorthin durchgekämpft hat. Das war das Fazit des Gutachtens der Expertengruppe.
Sie ließ wieder einmal jede Diplomatie außer acht und rief Larner an. »Ray, Kerstin hier. Halm, ja, Halm verdammt noch mal, (letzteres auf schwedisch). Ich frage mich, warum wir das psychologische Profil der Expertengruppe vorher nicht zu Gesicht bekommen haben.«
»Because it's bullshit«, hallte es im Hörer.
»Warum? Hier finden sich doch massenweise Aspekte, an die wir bisher nicht gedacht haben.«
»Ich war Mitglied der Expertengruppe. Ich stimme insoweit zu, als es sich um eine kohärente Erzählung handelt. Sie funktioniert. Aber die störenden Einwände seitens der Polizisten in der Gruppe wurden von der Erzählung verschlungen. Der Wunsch, Einheitlichkeit zu erzielen, führte dazu, daß das allerwichtigste Faktum unterdrückt wurde.«
»Welches denn?«
»Die professionelle Vorgehensweise.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er versucht nicht, eine Stellung auszugleichen, es ist kein Prozeß, sondern eine eiskalte Serie von Ausrottungen. Er hinterläßt keine glühenden Zeichen, sondern verfrorene Reste. Es sind Ruinen, keine Gebäude.«
Sie sagte nichts. Diese Argumentation kannte sie. Sie bedankte sich und beendete das Gespräch.
»Er ist deiner Meinung«, sagte sie unvermittelt.
Paul Hjelm, der gerade die delikaten Unterschiede zwischen den Zangen studierte, fuhr zusammen. »Wovon redest du?« fragte er unwirsch.
»Nichts«, sagte sie und versuchte, sich weiter durch das Material zu kämpfen. Es wollte ihr nicht gelingen. Sie rief Larner noch einmal an. Seine Stimme war unverändert geduldig.
Sie kam direkt zur Sache: »Ist es in der zweiten Runde wirklich professionell?«
»Wie Sie sicher gemerkt haben, habe ich über die zweite Runde sehr wenig zu sagen. Ich verstehe es nicht. Es ist genauso professionell, dieselbe Vorgehensweise. Es sind die Opfer, bei denen sich etwas geändert hat.«
»Aber warum?« fragte sie irritiert. »Warum ist er von Ingenieuren und Forschern zu Prostituierten und Pensionären übergegangen?«
»Wenn Sie die Frage klären, haben Sie den Fall geklärt«, sagte Larner ruhig. »Aber ist es wirklich so eindeutig? Sie haben doch immerhin Literaturkritiker und Diplomaten und Drogenhändler unter den Getöteten. Es sind wohl beide Sorten, könnte man sagen.«
»I'm sorry«, sagte sie ein wenig zerknirscht. »Es ist nur so frustrierend.«
»Wenn Sie zwanzig Jahre an dieser Sache gearbeitet haben, dann wissen Sie, was Frustration ist...«
Sie legte auf und machte sich widerstrebend an die Arbeit. Die Schwierigkeit war, keine Hypothesen aufzustellen, Folgerungen zu vermeiden und nur Informationen aufzunehmen. Das Blickfeld zu erweitern, statt es einzuschränken. Auf den rechten Augenblick zu warten.
Ihr ganzer Tag ging damit drauf, sich einen vernünftigen Überblick zu verschaffen. Und der Abend. Die Führung durch Manhattan mußte noch einen weiteren Tag warten.
Am Tag darauf begannen sie damit, das Blickfeld langsam einzuengen und die Tausende von Seiten nach potentiellen schwedischen Anknüpfungspunkten durchzukämmen. Warum war er nach Schweden gegangen? Irgendwo da lag die Lösung.
Hjelm nahm sich das elfte Opfer genauer vor, den norwegischen Kernphysiker Atle Gundersen; dort konnte vielleicht etwas zu finden sein. Er nahm Kontakt zum UCLA auf und versuchte, schwedische Kollegen von Anfang der achtziger Jahre zu finden, er rief bei der Familie in Norwegen an. Er schaffte es, einen halben Tag damit zu vergeuden, doch heraus kam nichts.
Holm wandte sich dem Schwedenabkömmling im Commando Cool zu, Chris Anderson. Sie rief ihn sogar an. Er hörte sich müde an, erschöpft. Er war dermaßen oft befragt und vernommen worden, daß er es satt hatte. Vietnam lag so weit weg, konnte er nicht irgendwann die Erinnerungen begraben, die nachts immer noch kamen und ihn heimsuchten? Sie hatten schreckliche Dinge getan, aber es war Krieg, und sie arbeiteten fast direkt unter dem Präsidenten, was also hätten sie tun können? Nein, er wußte nicht genau, wie Befehlsstruktur und Befehlserteilung aussahen, es müßte an mehreren Stellen im Ermittlungsmaterial stehen. Ja, er war eng mit Wayne Jennings befreundet gewesen, aber nach dem Krieg
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