Bollinger und die Barbaren
Betätigung:
Petting, Verkehr mit vaginaler Penetration und Selbstbefriedigung.
Das Ergebnis war verblüffend: Diejenigen, die richtigen Geschlechtsverkehr gehabt hatten, zeigten die wenigsten Anzeichen
von Stress bei ihren öffentlichen Auftritten. Ihr Blutdruck wurde während der Tests ständig gemessen und aufgezeichnet. Sie
hätten die stabilsten Werte gehabt, und es wäre kaum zu Ausschlägen nach oben gekommen, schrieb Brody im Fachblatt ›Biological
Psychology‹. Selbstbefriedigung und Petting hätten auch eine gewisse beruhigende Wirkung gehabt, seien aber weniger effektiv
gewesen. Am schlimmsten sei das Lampenfieber bei den Teilnehmern gewesen, die in den zwei Wochen vor ihrem Auftritt gar keinen
Sex gehabt hätten. Der Wissenschaftler vermutete, dass die beruhigende Wirkung von Sex durch das Oxytocin |52| hervorgerufen wurde; dieser Botenstoff werde im Volksmund »Kuschelhormon« genannt und entfalte eine euphorisierende, aber
eben auch eine beruhigende Wirkung. Die Oxytocin-Ausschüttung könne auch erklären, warum die Stress senkende Wirkung von Sex
nicht nur unmittelbar nach dem Orgasmus auftrete, sondern lange anhalte. Um Verzerrungen der Studie auszuschließen, hatte
Brody für jeden Probanden ein psychologisches Profil erstellt, das über die Anfälligkeit für Stress und Angstzustände Auskunft
gab. Auch die Zufriedenheit in der Partnerschaft und die Arbeitssituation wurden berücksichtigt. Dennoch blieb die sexuelle
Aktivität zwischen liebenden Partnern laut Brody die beste Erklärung für die Nervenstärke während der Stresszustände.
Als ich das las, wusste ich sofort, was mit mir geschehen war. Ich hatte einen Weg gefunden, meine darniederliegende Oxytocin-Ausschüttung
zu erhöhen. Dank Lotte. Seither ging es mir besser.
Natürlich war mir schon lange klar gewesen, dass meine asketische Lebensweise ein Grund für die Unausgeglichenheit und die
Fehleinschätzungen in meinem Leben war. Ich hatte auch etwas dagegen unternommen – nicht zuletzt auf die Ratschläge von Dr.
Backes hin. Allerdings war ich von einer falschen Voraussetzung ausgegangen. Ich hatte angenommen, dass mir nur Sex fehlt.
Ganz normaler heterosexueller Sex.
Den habe ich in Saarbrücken gesucht. Krampfhaft. Ich bin mir sicher, dass ich dabei nicht die übliche Figur abgegeben habe:
also nicht den sabbernden, ausgehungerten Junggesellen. Schließlich trieb mich nicht mein Testosteron-Überschuss an – in dieser
Hinsicht bin ich eher unterdurchschnittlich ausgestattet. Mich hat noch nie ein starker Sexualtrieb gequält. Nein, was mich
auf die Partys meiner Kollegen getrieben hatte, war die Gewissheit, dass sich mein Zustand verbessern würde, wenn ich endlich
Sex hatte. Mir hing die Zunge nicht aus dem Mund, ich hinterließ eher einen relaxten, einen sehr gefestigten und überlegenen
Eindruck bei der Saarbrücker Damenwelt. Trotzdem |53| kam ich, außer im Eros-Center an der Brebacher Landstraße, kaum zum Zug.
Vielleicht muss man, um heutzutage sexuell anzukommen, einfach so etwas wie plumpe Geilheit verströmen. Damit konnte ich nicht
dienen, also reagierten die jungen Frauen, mit denen meine Kollegen verkehrten, auch nicht auf mich. Und die, die reagierten,
wollten eigentlich keinen Sex (zumindest nicht mit mir), sondern gute Gespräche. Und wenn es trotz aller negativen Vorzeichen
dennoch zum Vollzug kam, so war der nicht dazu geeignet, meine geistige Verfassung wirklich zu verbessern.
Ich hatte mich immer gefragt, wieso, denn ich hatte doch alles richtig gemacht. Heute weiß ich es: Es kommt darauf an, mit
wem man Sex hat. In Saarbrücken habe ich die Partnerin, die meine Oxytocin-Ausschüttung nachhaltig hätte anregen können, nicht
gefunden. Ich will nichts Schlechtes über die Frauen sagen, die mir in dieser schweren Zeit begegneten: Sie waren schön und
klug und hatten Charme. Aber was ihnen fehlte, war eine göttliche Seele.
Lotte hatte so eine Seele.
D ie Ausbeute der Spurensicherung war ziemlich dürftig gewesen. Nicht, dass ich den Kollegen aus Metz misstraut hätte. Aber
mir erschienen die knappen zwei Stunden, die sie das Gelände durchkämmt hatten, doch etwas wenig Zeit zu sein angesichts der
Schwere der Tat, mit der wir es zu tun hatten.
Ich telefonierte täglich mit der Kriminalpolizei. Aber diese Telefonate wurden immer einsilbiger. Man war in Metz zu der Auffassung
gelangt, dass es sich um Selbstmord handelte. Die Identität des Toten
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