Bollinger und die Barbaren
eines Kindes. Agneta
sang etwas Polnisches. Es passte zu der Marschmusik.
In der Ecke hatten es sich Cyril Schwierz und Ellinor auf einer Couch bequem gemacht. Die beiden strahlten. Sie waren von
Agnetas Darbietung ebenso angetan wie ich.
|161| Ich benahm mich wie jemand, der zu spät ins Theater kommt. Zum Glück entdeckte ich einen freien Stuhl, auf den ich mich flüchtete,
die Knie eng aneinandergedrückt. Allerdings wusste ich nicht, wohin mit der Flasche Veuve Clicquot. Ich ließ sie unterm Stuhl
verschwinden.
Schwierz und seine Mitarbeiterin schienen mich nicht wahrzunehmen. Sie starrten gebannt auf die schöne Agneta, die unentwegt
marschierte, marschierte und marschierte und dabei das polnische Liedchen sang.
Und dann sah ich die beiden Koffer, die neben der Tür standen. Agneta wollte Schauren verlassen. Sie wollte mich verlassen.
Nun war es klar. Es war wirklich aus. Bevor es richtig begonnen hatte.
Ich tat etwas, was ich noch nie getan hatte: Ich schlich mich vor Ende der Vorstellung weg. Meine Flasche Veuve Clicquot nahm
ich wieder mit.
I ch gebe zu, ich ließ meine Wut an Schwächeren aus. Aber wer hätte das nicht getan?
»Ich will jetzt keine Schaurener Dorfmythologie mehr hören. Ich will wissen, was los ist. Reden Sie endlich, oder Sie lernen
mich kennen!«
Alain Miller trat von einem Fuß auf den anderen. Straßer schaute gelangweilt an die Decke.
»Wird’s bald! Oder soll ich einen Bericht nach Metz schicken?« »Was für einen Bericht denn?«, fragte Straßer. Er schmunzelte.
Dieser unverschämte Kerl schmunzelte wirklich.
»Das werde ich Ihnen sagen, Straßer. Einen Bericht darüber, dass man mich als Revierleiter hier systematisch über die wirklichen
Hintergründe der Vorgänge auf dem Wackesberg im Unklaren lässt. Ich bin sicher, die Herren in Metz werden nicht lange fackeln
und jemanden schicken, der Ihnen beiden kräftig auf die Finger tritt.«
|162| »Wollen Sie uns denn schon verlassen, patron ?«, fragte Louis Straßer. Ich nehme an, es sollte Bedauern durchklingen – aber ich hörte nur Häme.
»Wer war dieser Humpel-Jean?«, fragte ich.
Louis breitete die Arme aus und zog die Schultern hoch – er sah aus wie ein Franzose aus der deutschen Rotweinwerbung.
»Was weiß ich? Ich war damals ein kleiner Junge. Ein Dorfdepp, sagte man. Keine Ahnung.«
Ich hatte genug von diesem Eiertanz. »Gut. Sie wollen also nicht. Ich komme auch ohne Sie klar. Aber ich werde mich an Ihre
wertvolle Hilfe erinnern.«
Ich schlug die Tür hinter mir zu und stieg hinunter in den Keller.
Die Hagenaus schliefen. Sie hatten sich mit ihren Kleidern zugedeckt.
Zur Sicherheit schloss ich die Zelle hinter mir ab und steckte den Schlüssel in meine Hosentasche.
Ich setzte mich auf die Pritsche des Alten. Der Verband, den Dr. Chariot ihm am frühen Morgen angelegt hatte, war durchgeblutet.
Hagenau roch streng. Aber das hätte ich wahrscheinlich auch nach einer Nacht in der Zelle. Plötzlich schlug er die Augen auf
und starrte mich an wie eine Alkoholfantasie.
»Ich wollte mit Ihnen reden«, sagte ich.
»Worüber?«, fragte er und drehte sich weg.
»Sagen wir – über den Humpel-Jean.«
Hagenau wälzte sich wieder herum. Unter dem Mantel quälte sich sein Darm. Er schaute mich an. Etwas arbeitete in ihm.
Er reichte mir die knochige, alte Hand. Ich ergriff sie. Sie war kalt und wie aus Metall. Er legte die andere Hand auf die
verbundene Wunde am Arm, sie schien zu schmerzen. Ich zog. Es gelang ihm, sich aufzurichten. Er hustete erst einmal ausgiebig.
Als er sich beruhigt hatte, fragte er, ob er was zu essen bekommen könnte. Ich sagte, ich würde ihm etwas holen.
»Soll ich Dr. Chariot bitten, nach Ihrem Arm zu sehen?«
|163| Er schüttelte den Kopf. »Den Quacksalber kann ich nicht ausstehen.«
Ich verließ die Zelle.
»Und einen Espresso!«, rief er hinter mir her. »Aber heiß!«
Ich stieg wieder hinauf und bestellte telefonisch im »Forêt de Schauren« drei Frühstücke. Miller und Straßer saßen an ihren
Schreibtischen und taten beschäftigt.
»Und wer soll das bezahlen?«, maulte Louis.
»Wollen Sie die Hagenaus verhungern lassen?«
Alain Miller lachte, und sein Bauch hüpfte dabei. »Das wäre nicht die dümmste Lösung. Kenne einige in Schauren, die uns danken
würden.«
»Sie fahren zum ›Forêt‹ und holen das Frühstück ab!«, befahl ich ihm. »Damit’s schneller geht.«
Augenblicklich hörte Miller auf zu lachen. Er schaute
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