Bollinger und die Barbaren
Straßer an. Straßer räusperte sich.
»Finden Sie das nicht etwas übertrieben, den Halunken auch noch ein Frühstück aus dem Restaurant holen zu lassen?«
»Tun Sie endlich, was ich Ihnen sage!«, brüllte ich.
Alain Miller sprang auf und rannte wütend hinaus. Louis Straßer vertiefte sich in den Sportteil des ›Républicain‹.
Nur zehn Minuten später erschien Miller mit einer großen Kiste aus Styropor. Er stellte sie auf meinen Schreibtisch. Es roch
nach frischem Kaffee und Croissants. »Tragen Sie ‘s runter!«, sagte ich.
»Aber ...«
»Wird’s bald!?«
M anieren hatten sie nicht. Selbst der angeblich etwas feinsinnigere Charles schlang das Frühstück hinunter, als ginge es um
sein Leben. Keiner hielt es für nötig, sich für den Kaffee und die Croissants zu bedanken. Ich saß auf einer Pritsche und
schaute ihnen zu.
»Was ist jetzt mit dem Humpel-Jean?«
|164| Der Alte schnäuzte sich die Nase, schaute sich das Resultat in seinem riesigen Taschentuch an, steckte sich eine Gauloise
an und lehnte sich rauchend zurück.
»Jean war mein ältester Bruder. Ihr habt ihn abgeknallt – ihr Deutschen.«
Der größte Fehler, den man bei solch schwierigen Verhören machen kann, ist es, dem Befragten zu zeigen, dass er einen aus
dem Konzept gebracht hat. Aber die Hagenaus waren keine gewieften Berufsverbrecher. Ich musste nur warten. Warten und zuhören.
»Wir Hagenaus waren nicht immer Außenseiter. Bevor mein Bruder auf dem Wackesberg saß, gehörten wir dazu. Meine Eltern lebten
mitten in Schauren, arbeiteten hier, hatten eine gute Nachbarschaft und das alles. Dann schloss sich Jean der Résistance an.
Das war völlig in Ordnung. Heimlich klopften sie meinem Vater auf die Schulter und sagten: ›Alle Achtung, dein Sohn!‹ Mein
Vater war ziemlich stolz auf Jean. Doch dann begannen Jean und seine Kumpane, den Deutschen auf die Nerven zu gehen. Die SS
machte in Schauren eine Razzia nach der anderen. Natürlich fand sie auch dies und das. Illegale Waren. Mal ein Gewehr. Wild.
Verstecktes Schlachtfleisch. Da hörte der Spaß auf. Die Schaurener begannen einen Bogen um uns Hagenaus zu machen. Sie sahen
es gerne, wenn einer aus dem Dorf bei der Résistance mitmischte – aber sie wollten keinen Ärger haben. Dann fingen die Deutschen
Jean ein. Ausgerechnet im Dorf. Er war so blöd, tagsüber zu meiner Mutter zu gehen. Sie war krank, und es hieß, sie würde
sterben. Darauf hatten die Deutschen nur gewartet. Sie schnappten ihn und steckten ihn der Einfachheit halber ins hiesige
KZ auf dem Wackesberg. Da ist er ihnen aber schon nach kurzer Zeit entwischt. Mein Bruder war immer ein Kerl, den man nicht
halten konnte. Nicht in der Familie, nicht in der Schule, nicht auf der Arbeit. Nicht einmal im KZ blieb er lange. Die Deutschen
haben natürlich alles auf den Kopf gestellt. Die waren wütend – das können Sie sich vielleicht vorstellen. Sie wollten ein
Exempel statuieren: Es ging nicht, dass jemand nach |165| Lust und Laune aus dem KZ herausspazierte. Na ja, irgendwann haben sie Jean dann auch gefunden. Natürlich wurde er auf der
Stelle abgeknallt. Die Deutschen fackelten nicht lange. Das war kein Spiel. Auf beiden Seiten nicht. Die Résistance hat auch
nicht gezögert, einen Deutschen in die Luft zu sprengen, wenn ihr danach war.«
Der Alte schwieg. Auch ich ließ etwas Zeit verstreichen, bis ich sprach.
»Und Ihre Familie ist anschließend aus dem Dorf weg in den Wald gezogen?«
Der Alte nickte.
»Aber warum? Die Schaurener konnten doch nichts für die Verbrechen der SS, und kein Schaurener hätte Jean helfen können.«
»Sie haben ja keine Ahnung!«, rief Luc.
»Halt dein Maul!«, befahl ihm sein Bruder Charles. »Du hast genug Scheiße gebaut.«
Ich verstand: Luc hatte die Idee mit den Benzinkanistern gehabt.
Der Alte hustete wieder und zertrat wütend seine Zigarettenkippe auf dem Zellenboden.
»Ich will es Ihnen sagen. Ich habe meinen Bruder kurz vor seinem Tod noch mal gesehen ...«
»Als er auf der Flucht vor der SS war?«
Der alte Hagenau schüttelte den Kopf. »Im KZ. Es gab da gewisse Möglichkeiten. Er hat mich sehr gemocht. Ich war sein p’tit frère , sein kleiner Bruder. Er wollte mich sehen und hat deshalb eine Wache bestochen. Damals hat mein Bruder mir gesagt, dass
er glaubte, verraten worden zu sein. Leute aus dem Dorf hätten ihn an die Deutschen verpfiffen – nur um ihre Ruhe vor den
Hausdurchsuchungen der SS zu haben.
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