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Bollinger und die Barbaren

Titel: Bollinger und die Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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plausibel.
    »Und nach dem Krieg? Ich meine, dann hätten Sie doch die Behörden zwingen können, den richtigen Grabstein aufzustellen. Den
     mit dem Namen Ihres Bruders.«
    Der alte Hagenau hustete und spuckte aus. »Es kam öfter vor, dass wir beim Friedhofsbesuch den Angehörigen dieses deutschen
     Soldaten gegenübergestanden haben. Das waren ganz nette Leute. Sie haben uns sogar etwas Geld zugesteckt. Warum weiß ich auch
     nicht. Vielleicht weil wir alle so abgerissen aussahen. Wir wussten ja, wo unser Jean begraben lag. Warum also noch ein solches
     Theater veranstalten? Die Behörden hätten eine Exhumierung vornehmen müssen und all den Kram – das macht keinen Spaß, nach
     so vielen Jahren. Deshalb ließen wir alles so, wie es war. Wir Hagenaus teilen uns ein Grab mit den Wilhelms aus Pirmasens.
     Ist das nicht wahre Völkerfreundschaft?« Er lachte böse auf. »Genügt Ihnen das?«
    »Ja. Sie können mit Ihren Söhnen nach Hause gehen.«
    Hagenau zögerte. »Meinen Sie das ... ernst?«
    »Ja. Verschwinden Sie!«
    Als Polizist durfte ich das nicht. Aber als Mensch blieb mir nichts anderes übrig.

|169| 14. KAPITEL
    M ein Großvater war ein Nazi. Meine Oma auch. Sie wollte ihren einzigen Sohn, meinen Vater, sogar auf eine napola, eine nationalpolitische
     Erziehungsanstalt, schicken. Der Krieg hatte ihre Pläne jedoch durchkreuzt.
    Die Familie meines Vaters kam aus der Feldstraße. Dort lebten die Armen: in einer geduckten grauen Häuserreihe außerhalb der
     Kleinstadt, in der ich aufwuchs. Meistens hielten sie sich draußen auf der schmutzigen Straßenzeile zwischen den Häusern und
     den Gärten auf, weil es drinnen zu eng und zu dunkel war.
    In der Kolonie, dem Ortsteil, in dem mein Vater später aufwuchs, wohnten keine Sozialfälle. Dort waren alle angestellt – bei
     den Saarbergwerken oder in der Stahlhütte in Brebach oder Dillingen. Meine Großeltern galten als Pack, das in die Feldstraße
     gehörte und es sich nur leisten konnte, im kleinsten Häuschen der Kolonie zu leben, weil mein Großvater auf der Grube Maybach
     Doppelschichten fuhr. Dabei gehörten alle Häuser in der Kolonie einem Besitzer – den Saarbergwerken. Niemand, der dort wohnte,
     war Hausbesitzer. Sie fühlten sich aber alle so und rümpften die Nase über die Bollingers in dem Hexenhaus, das die Toilette
     noch im Garten hatte.
    Mein Großvater arbeitete sich in der Grube krumm. Meine Großmutter holte jeden Samstag den Lohn vom Lohnbüro ab und ging dann
     damit einkaufen – auf den Markt und in mindestens zwei Metzgereien. Sie musste sich sehr in Acht nehmen, damit ihre Mutter,
     die immer noch in der Feldstraße wohnte, sie nicht beim Einkaufen erwischte. Die alte Hexe zögerte nämlich |170| nicht, sich das aus den Taschen ihrer Tochter zu nehmen, was ihr ihrer Meinung nach zustand.
    Die alte Frau Eikopp – so hieß sie – brauchte viele Lebensmittel für all die Mäuler, die sie zu stopfen hatte. Sie hatte eigene
     Kinder von ihren verschiedenen Männern, Kinder, die diese Männer mit in die Ehe gebracht hatten, und einen Adoptivsohn, der
     wie ihr einziger leiblicher Sohn, der Kommunist, auch Robert hieß. Sie lebte von dem, was sie für ihre Kinder bekam. Deshalb
     behandelte sie auch alle Kinder gleich, niemand wurde bevorzugt oder benachteiligt. Eigentlich behandelte sie sie alle gleich
     schlecht. Dennoch hingen sie an der furchtbaren Frau. Aber am meisten hing ihr Adoptivsohn an ihr, ein hoch aufgeschossener,
     entsetzlich dürrer Junge, der sein ganzes Leben lang alles daran setzte, so gepflegt wie möglich zu erscheinen – wie viele
     Menschen, die aus ärmlichen Verhältnissen kommen.
    Wenn die Alte also ihre Tochter mit vollen Taschen erwischte, nahm sie ihr einen beträchtlichen Teil des Essens weg. Meine
     Großmutter schrie und weinte, denn sie pflegte den ganzen Wochenlohn in Wurst, Käse, Butter und Nudeln umzusetzen. Wenn sie
     nur noch einen kläglichen Rest mit nach Hause brachte, mussten ihr eigenes Kind und ihr Mann hungern – mein Großvater rackerte
     sich im Stoß ab, der schwierigsten Stelle in der Grube, wo man nicht mehr stehen konnte. Einmal lief meine Großmutter der
     Hexe bis in die Feldstraße hinterher und verlangte ihre Lebensmittel zurück. Die Alte ließ sie herein, dann packte sie die
     junge Frau mit der übermenschlichen Kraft, die dicke, alte Weiber haben können, und kettete sie an das Rohrgestell ihres Bettes.
     Sie schlug ihre verheiratete Tochter mit dem losen Ende der

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