Bollinger und die Barbaren
Deshalb sind meine Eltern in den Wald gezogen. Deshalb sind wir Außenseiter geworden.
Deshalb wollen wir mit denen und die mit uns nichts mehr zu tun haben. Die sauberen Schaurener haben ein schlechtes Gewissen.
So sieht’s nämlich aus.«
|166| Die beiden Söhne starrten auf den Boden. Das, was ihr Vater erzählte, schien sie nicht zu berühren. Dennoch hatte ich das
Gefühl, dass sie aufmerksam zugehört hatten – und dass der Alte das wusste.
»Ich muss pissen«, sagte er und erhob sich.
Ich schloss die Zelle auf und führte ihn hinaus. Hinter mir schloss ich wieder ab.
»Papa, du kommst aber wieder, oder?«, rief Luc.
Der Alte winkte genervt ab.
»Kleine Kinder, kleine Sorgen. Große Kinder, große Sorgen«, seufzte er, als ich ihm oben die Tür zum Klo zeigte.
»Lassen Sie den bloß nicht auf unsere Toilette!«, rief Louis von nebenan.
»Soll ich dir vielleicht auf den Schreibtisch pissen, Straßer?!«, brüllte Hagenau.
Louis trat auf den Flur. Ich schob den Alten schnell in die Kabine, bevor ein Unglück geschah.
»Chef, Sie kennen diese Burschen nicht. Denen kann man nicht trauen. Sie haben ja gesehen, was am Wackesberg los war.«
»Wenn Miller nicht so lange gezögert hätte, wären sie gar nicht erst auf das Gelände gekommen«, sagte ich.
Alain Miller, der hinter Straßer erschienen war, fuchtelte mit den Armen.
»Jetzt bin ich wieder schuld – es waren doch diese Asozialen, die die Container der Bauleitung in die Luft jagen wollten.«
Drinnen rauschte die Spülung.
»Mann, hat der einen Wasserverbrauch«, schimpfte Louis. »Zu Hause gehen sie auf den Misthaufen.«
Hagenau spülte wirklich lange. Oder die Spülung war kaputt. Louis klopfte gegen die Tür.
»Jetzt reicht’s aber, Hagenau. Das geht auf Staatskosten.«
Doch der alte Hagenau ließ sich nicht irritieren. Er spülte weiter.
»Du, ich hol dich gleich da raus!«, brüllte Louis.
Ich verließ das Revier und ging um das Haus herum. Das Toilettenfenster |167| war offen. Der Geländewagen stand mit beiden Vorderreifen auf dem Bürgersteig und wippte leicht. Er wippte, obwohl der Motor
nicht lief.
Ich ging zu dem Wagen und öffnete die Fahrertür. Der Alte kauerte unter dem Armaturenbrett. Er hatte die Zünddrähte bereits
aus der Verblendung gelöst.
»Das würde ich nicht tun. Miller würde einen Ihrer Söhne erschießen.«
Hagenau kletterte ächzend aus dem Wagen.
»Um die wäre es nicht schade.«
»Wenn Sie mir sagen, was mit Ihrem Bruder Jean wirklich passiert ist, können Sie gehen.«
»Was soll mit ihm passiert sein? Die Deutschen haben ihn erschossen. Das habe ich Ihnen doch schon erzählt.«
»Ich glaube, dass Jean die Jagd der SS überlebt hat. Er muss sich irgendwann mal bei seiner Familie gemeldet haben.«
Der alte Hagenau winkte ab. »Das ist doch bloß das Geschwätz der alten Weiber. Mein Bruder ist damals umgekommen.«
»Und wo ist er beerdigt?«
Wir schlenderten zum Revier zurück. Wenn uns jemand sah, musste er glauben, wir wären gute Nachbarn, die sich an einem ruhigen
Vormittag Zeit für ein Schwätzchen nahmen.
»Die Deutschen haben die Leiche nach Niederbronn-les-Bains gebracht. Jean ist dort in aller Stille beerdigt worden – im Beisein
meines Vaters. Meine Mutter war noch nicht wieder genesen. Man hatte versucht, ihr den Tod meines Bruders zu verschweigen.
Aber die Schaurener Lästermäuler hatten dafür gesorgt, dass die arme Frau doch noch Wind davon bekam. Das hat ihre Genesung
noch einmal verzögert. Deshalb musste mein Vater allein nach Niederbronn zu Jeans Beerdigung. Ich glaube, Mutter hätte das
auch nicht überlebt. Als sie wieder auf die Beine kam, hat sie sich wohl mal allein aufgemacht und ist mit dem Bus nach Niederbronn
gefahren, um das Grab ihres Sohnes zu besuchen. Allerdings hatten die Deutschen inzwischen einen Grabstein auf dem Grab aufgestellt,
der einen anderen Namen trug: |168| Lothar Wilhelm, ein in Russland vermisster deutscher Soldat aus Pirmasens.«
Ich blieb stehen. »Warum sollten sie so etwas tun?«
»Ganz einfach: Um zu verhindern, dass es in Niederbronn ein französisches Märtyrergrab der Résistance gab. Damals hat nicht
viel gefehlt – und die Leute hier wären Amok gelaufen. Nein, nicht die Schaurener. Aber die aus Niederbronn und aus Lemberg.
Die hatten einen Hass auf die Deutschen, ich kann Ihnen sagen, da krachte es fast jeden Tag. Und die SS – die hatte mächtig
Schiss vor der Résistance. Zu Recht.«
Das klang
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