Bollinger und die Barbaren
Trommelfell nicht platzt.«
Mein Großvater, der sicher schon öfter mit Detonationen zu tun gehabt hatte als sein Schwager, protestierte nur halbherzig.
Ich gehorchte Onkel Robert, riss den Mund auf und legte beide Hände auf die Ohren. Irgendwo schoss eine Erdfontäne hoch. Ich
hörte jedoch nichts.
Ich habe diesen Moment niemals vergessen. Diese Explosion, die ich nicht hörte, sondern nur sah und in meinen Lungen spürte.
Als ich aufschaute, war ein kleiner Berg verschwunden. Vor Sekunden hatte auf der Spitze noch die schiefe Holzhütte gestanden,
die dem Bauleiter als Büro gedient hatte. Als das Horn des Sprengmeisters wieder ertönte, sprang ich auf. Mein Opa und sein
Schwager standen bereits. Sie machten den Eindruck, als seien solche Sprengungen für sie nichts Ungewöhnliches. Sie schauten
dahin, wo früher die Baracken der »Lagerscher« gestanden hatten, und schwiegen.
Irgendwann sagte Robert: »Ich bin heilfroh, dass sie mich ins Ruhrgebiet geschafft haben. Sonst wäre ich hier gelandet. Von
denen, die hierherkamen und die ich kannte, habe ich nie wieder einen gesehen. Die sind alle verhungert.«
Mein Großvater zeigte keine Regung. Doch irgendwann sagte er leise: »Ich hätte dir schon zu essen gebracht.«
Robert lachte glucksend in sich hinein. »Schafskäse aus Griechenland?«
Mein Großvater drehte sich von ihm weg und sagte mürrisch: »Hättest halt dein Maul halten sollen. Oder glaubst du, es ist
besonders schlau, sich mitten im Nationalsozialismus für die Bolschewisten ins Zeug zu legen?«
»Ich hatte nie etwas am Hut mit den Bolschewisten«, beteuerte Robert.
Doch mein Großvater lief mit seinen kurzen Beinen die Böschung hinauf und verschwand im Wald.
|176| 15. KAPITEL
E rmittlungen in einem Mordfall müssen systematisch vonstatten gehen. Nichts darf übersehen, nichts vernachlässigt werden. Der
Ermittler muss sich jederzeit bewusst sein, auf welchem Stand er sich gerade befindet.
Ich ordnete also die Faktenlage auf einer Wandtafel, die Alain Miller auf meine Bitte hin aus dem Keller geholt und im Büro
angebracht hatte.
Da war zuerst der Tote vom Wackesberg. Er hatte einen Gehfehler und einen Schusskanal im Kopf. Gestorben war er aber durch
die Strangulation. Noch hatten wir seine Identität nicht wirklich geklärt.
»Aber wir sind kurz davor«, sagte ich zu meinen beiden Mitarbeitern, während ich diese wichtigen Erkenntnisse stichwortartig
auf der Tafel vermerkte, einen Rahmen um sie zog und »Opfer« darüber schrieb. Dann legte ich daneben einen Kasten für die
Hagenaus an und trug alles ein, was mir wichtig erschien. Danach zog ich eine Verbindungslinie zwischen den beiden Kästen.
»Das ist unser Nahziel: Wir wollen herausfinden, ob es eine Verbindung zwischen beiden gibt, und wenn ja, worin diese Verbindung
besteht. Gibt es Vorschläge?«
Es gab keine. Miller gähnte. Dann fiel ihm etwas ein.
»Was haltet ihr davon? Die Hagenaus haben die Sitze aus meinem Sharan gestohlen. Vielleicht wollen sie sie nach Deutschland
verkaufen ...«
Was hatte das mit unserem Mordfall zu tun?
»Das ist doch Quatsch. Wer sollte in Deutschland Sitze für einen Sharan kaufen?«, fragte ich verärgert.
|177| »Zum Beispiel jemand, der einen Unfallwagen aufmotzen will.«
Ich stampfte wütend auf. »Wir besprechen jetzt einen Mordfall. Nicht den Diebstahl Ihrer Autositze, Miller!« Dann ruhiger:
»Wenn wir erst die Identität des Toten ermittelt haben, wird es einfacher sein, einen potenziellen Täterkreis einzugrenzen.«
Louis schaute mich lange an. Dann schlurfte er wortlos zu seinem Schreibtisch. Miller verschränkte beleidigt die Arme vor
der Brust und wartete darauf, dass ich ihn entließ.
»Übrigens – mir ist da etwas eingefallen. In der Nacht, als Ihr Sharan aufgebrochen wurde, war ich unterwegs.«
Miller saß sofort kerzengerade. »Und? Ist Ihnen was aufgefallen?«
»Ja. Ein Lieferwagen. Er kam mir am Ortseingang entgegen. Mitten in der Nacht. Ohne Licht.«
Miller brauchte eine Weile, seine Lippen bewegten sich stumm.
»Aber warum ... warum sagen Sie das jetzt erst?«
»Es gab Wichtigeres.«
»Wichtigeres?« Er wurde laut. »Hören Sie, patron : Die Schweine haben mir meinen neuen Wagen ausgeräumt. Ich kann nicht mehr damit fahren. Der Händler in Forbach sagt, es
dauert Monate, bis er neue Sitze beschaffen kann. Es gibt kaum schrottreife Sharans. Und neue Sitze kosten ein kleines Vermögen.«
»Der Lieferwagen hatte ein polnisches
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