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Bollinger und die Barbaren

Titel: Bollinger und die Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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Geschichten. Man lernte damit zu leben. Manche lernten sogar, darüber zu lachen.
    Mein Großvater, der Nazi, hatte nie darüber lachen können. Er |173| hatte nie wieder so viel geredet wie vor dem Krieg, als er geglaubt hatte, eine neue Zeit sei angebrochen und die neue Zeit
     brächte sogar einem einfachen Bergmann, seiner Frau und seinem Sohn ein wenig Wohlstand und einen Grund, stolz auf sich zu
     sein.
    Wenn wir unseren Großvater baten, uns etwas vom Krieg zu erzählen, wurde er mürrisch. Er sagte, das sei nichts, was man einfach
     so erzählen könnte. Wir aber wollten spannende Geschichten hören von großen Gefühlen und von der Ferne, in die mein Großvater
     aufgebrochen war. Er sagte, wir sollten uns lieber mit anderen Dingen beschäftigen und ihn frühestens damit behelligen, wenn
     wir erwachsen waren.
    »Aber dann bist du tot«, sagte ich oft.
    »Umso besser«, entgegnete er.
    Mein Großvater sprach nur mit einem Menschen über den Krieg. Mit seinem Schwager Robert. Robert war nur der Halbbruder meiner
     Großmutter – obwohl er ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war. Robert war von den Nazis interniert worden, weil er zu denen
     gehört hatte, die bei der Saarabstimmung 1935 gegen den Anschluss des Saarlandes an das Reich gekämpft hatten. Es war eine
     Minderheit gewesen, die Bevölkerung an der Saar stimmte, als das Dritte Reich schon ins dritte Jahr ging, mit überwältigender
     Mehrheit für Hitler. Sie versprach sich von dem selbstbewussten Reich mehr als von der Unabhängigkeit ihres winzigen Landes
     – neben dem großen Nachbarn Frankreich, der wegen des letzten Krieges noch immer nicht gut auf die Deutschen zu sprechen war.
     Als das Saarland also nationalsozialistisch wurde, waren diejenigen, die sich dieser Entwicklung hatten entgegenstemmen wollen,
     nicht gut angesehen. Zudem hatte mein Großonkel Robert noch einen anderen Grund gegen Hitler zu sein: Er war Kommunist.
    In den dreißiger Jahren sprangen die Nazis in unserer Gegend noch nicht so mit ihren politischen Gegnern um wie später, als
     der Krieg die Sitten völlig verrohte. Robert wurde also nicht in der Lerchesflur, dem Saarbrücker Gefängnis, an die Wand gestellt. |174| Er wurde mit seiner ganzen Familie ins Reich deportiert – ins Ruhrgebiet, wo man Leute wie ihn besser kontrollieren konnte.
     Dort setzte man ihn fest, erlaubte ihm aber, bald wieder auf einer Grube zu arbeiten. Nur ins Saarland zurückkehren, das durfte
     er nicht mehr. Aber mein Großonkel Robert hatte sowieso die Nase voll vom Saarland. Die Saarländer konnten sehr nachtragend
     sein – vor allem wenn sie in der Überzahl waren, so wie nach der großen Saarabstimmung.
    Nach dem Krieg besuchte Robert ab und zu den saarländischen Zweig seiner Familie. Seine Schwester kochte für ihn deftiges
     saarländisches Essen, das er liebte und von seiner Frau nicht bekam. Er unternahm lange Spaziergänge mit seinem Schwager,
     meinem Großvater. Der Nazi und der Kommunist. Manchmal durfte ich die beiden Männer in den Wald begleiten.
    Einmal gingen wir zu einem etwas abgelegenen Teil der Ortschaft, wo gerade gebaut wurde. Man nannte die Straße »das Lager«.
     Die Kinder, die aus den Baracken kamen, wurden die »Lagerscher« genannt. Uns war verboten worden, mit ihnen zu spielen. Das
     hätten wir sowieso nicht getan, denn die Lagerkinder waren roh und schmutzig. Ich habe nie herausgefunden, was das für Kinder
     waren – vielleicht Zigeuner, vielleicht auch bloß Familien aus dem Ort, die ihre Miete nicht mehr zahlen konnten. Auf jeden
     Fall war beschlossen worden, »das Lager« im Zuge des Autobahnbaus zu beseitigen. Als wir unseren Spaziergang zu der Baustelle
     unternahmen, waren gerade die groben Erdarbeiten im Gange. Es wurde gesprengt. Das fragliche Gebiet war großflächig durch
     Schilder gekennzeichnet, ab und zu blies ein Sprengmeister auf seiner Tröte. Die beiden Männer schauten sich die Fortschritte
     der Erdarbeiten an und kommentierten sie kenntnisreich. Dann kam wieder ein Sprengsignal. Wir hatten uns ziemlich weit vorgewagt.
     Am Waldrand waren wir eine durch die Sprengungen entstandene Böschung hinabgeklettert. Nun mussten wir eilig den Rückzug antreten
     – und die Böschung wieder hinauf. Das ging jedoch langsamer als der Abstieg.
    »Alle Mann auf die Erde legen!«, befahl mein Großvater. |175| Robert glaubte besser zu wissen, wie man sich schützte. »Den Mund weit aufreißen und beide Hände fest auf die Ohren! Damit
     das

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