Bollinger und die Barbaren
Kette, bis sie sich nicht mehr rührte.
Als mein Großvater abends von der Grube nach Hause kam, war sein Söhnchen allein zu Hause und auf dem Ofen stand kein warmes
Essen. Er lief den schmalen Trampelpfad durch die Wiesen hinunter in die Feldstraße. Als er seine Frau angekettet am Bett
ihrer Mutter fand, packte er die Schwiegermutter und drückte sie gegen die Wand der Küche. Er war stark wie ein |171| Ochse, obwohl man ihm das nicht ansah. Aber nur ein Mensch mit solchen Kräften war in der Lage, im Stoß Doppelschichten zu
fahren, ohne dabei vor die Hunde zu gehen.
Die Kinder, die einiges gewöhnt waren, schrien, doch mein Großvater ließ die Alte nicht los. Er drückte sie solange gegen
die Wand, bis ihr die Luft wegblieb. Dann kettete er meine Großmutter los und ging mit ihr nach Hause.
Fortan machte die Alte einen großen Bogen um ihre Tochter. Der Kontakt zwischen der Eikopp und meinen Großeltern brach ganz
ab – bis Jahre später mein Vater ihn wieder aufnahm und mit mir und meinem Bruder seine Schwiegermutter in der Feldstraße
besuchte. Nun war die alte Eikopp allein, saß im Schaukelstuhl ihres letzten Mannes, hatte einen Damenbart und streichelte
uns die Köpfe. Manchmal gab sie uns sogar eine Süßigkeit, die wir scheu wegsteckten. Später, im Auto, sammelte mein Vater
alles ein und warf es während der Fahrt aus dem Fenster. »Sie meint es gut«, sagte er. »Aber es ist nicht gesund, das zu essen,
was sie verschenkt.«
Warum ich das alles erzähle? Nun, die Hagenaus erinnerten mich mehr an meine eigene Familie als mir lieb war.
Mein Großvater war Blockwart gewesen. Er sammelte gewissenhaft die Beiträge der Familien für die Arbeitsfront und KdF ein
und tat – außer seiner bösen Schwiegermutter – niemandem etwas zuleide. In der Kolonie zitterten alle vor ihm, denn als seine
Partei hochkam, fürchteten sie, er könnte sich dafür rächen, dass man seine Familie lange so schlecht behandelt hatte. Aber
dazu war der alte Bollinger nicht der Typ. Er glaubte an die gute Sache und wollte ihr nicht durch Privatangelegenheiten schaden.
Er war in Griechenland gewesen, und seine Einheit war von den Briten aufgerieben worden. Mein Großvater hatte einen Malariaanfall,
und sie ließen ihn im Straßengraben liegen. Eine Gruppe der Waffen-SS, die ein schweres Geschütz vor den vorrückenden Briten
retten wollte, las ihn auf.
Als die Waffen-SS nach Wien kam, steckte sie meinen Großvater |172| in ein Militärkrankenhaus. In der Nacht, bevor die Amerikaner das Krankenhaus übernahmen und alle deutschen Soldaten ins Kriegsgefangenenlager
brachten, türmte mein Großvater. Er schlug sich zu Fuß über die Tschechoslowakei und Franken bis zum Rhein durch. Unterwegs
arbeitete er bei Bauern, um etwas zu essen zu bekommen. Bei Mannheim wollte er über den Rhein. Auf der Brücke stand ein schwarzer,
französischer Soldat.
Mein Großvater ging zu ihm und sagte, dass er ein Bergmann aus dem Saarland sei und nach Hause wolle. Er wusste, was ihm blühte:
Das Saarland war von den Franzosen besetzt, sie führten ein strenges Regiment. Eine Großtante hatten sie nachts erschossen,
weil sie im Nachthemd auf die Toilette im Garten musste. Es herrschte Ausgangssperre.
Der Schwarze ließ meinen Großvater über die Brücke – die Besatzer brauchten deutsche Arbeiter für die Gruben im Saarland.
Unterwegs traf er ein paar Bauern, die ihn davor warnten, einer Militärstreife in die Hände zu fallen – alle Soldaten in deutschen
Uniformen wurden in ein Lager bei Bad Kreuznach gesteckt.
Mein Großvater schaffte es. Er kam an einem Spätherbstabend 1945 nach Hause. Sein Sohn und seine Frau waren im Kino – das
war neben dem Essen das einzige Vergnügen, das meine Familie kannte. Als sie nach Hause kamen, saß er auf der Treppe vor der
Haustür. Er hatte in den Krieg keinen Schlüssel mitgenommen.
Sein Sohn erkannte ihn nicht.
Am nächsten Morgen fuhr mein Großvater in die Grube ein. Sie gehörte jetzt zu den französischen Mines de la Sarre . Ich besitze heute noch alte Leitzordner meines Vaters, auf deren Rücken es mit dicker schwarzer Tusche geschrieben steht.
Ich erzähle diesen Teil meiner Familiengeschichte, um zu zeigen, dass das, was der alte Hagenau mir vom Schicksal seines Bruders
erzählt hatte, so verstiegen es auch klingen mochte, nicht ungewöhnlich war für die damalige Zeit. In jeder Familie diesseits
und jenseits der Grenze gab es solche
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