Bomann, Corinna - Clockwork Spiders
unten blicken ließe, von ihrer Mutter sogleich in Beschlag genommen werden.
Während des Ankleidens und Frisierens ging Violet die Ermahnung ihres Vaters nicht aus dem Kopf. Bisher hatte er so etwas noch nie gesagt, offenbar hatte er den Sohn von Lord Stanton als ernst zu nehmenden Heiratskandidaten ins Auge gefasst. Violet versuchte krampfhaft, sich an das Gesicht des Jungen zu erinnern, doch es wollte ihr partout nicht mehr als ein rotblonder Haarschopf einfallen, den er von seinem Vater geerbt hatte. Wann hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen? Vor drei oder vier Jahren?
Als die Dienstmädchen ihr Werk vollendet hatten, erblickte Violet im Spiegel das Gesicht einer Fremden, einer perfekten Lady, in einem wundervollen Kleid und mit kunstvoll gesteckter Frisur, die sich nur zufällig die Gesichtszüge mit ihr teilte. Zumindest an ihrem Äußeren dürfte ihr Vater nichts auszusetzen haben. Und seine Warnung …
Nun, für die automatische Bullenkastration interessierte sie sich schon längst nicht mehr. Was wohl die jungen Herren von einem Referat über arbeitserleichternde Geräte für das Hauspersonal halten würden? Oder über die Entwicklung eleganter Waffensysteme für Damen. Eine Vorführung meines Schirms würde bei dem jungen Lord Stanton gewiss wie der Blitz einschlagen, dachte Violet amüsiert.
»Mylady sind sicher schon aufgeregt, nicht wahr?«, fragte Claire, ihre Zofe, während sie das Werk der Dienstmädchen begutachteten. »All die eleganten jungen Herren! Vielleicht sagt Ihnen diesmal einer zu. Die Gästeliste sieht jedenfalls sehr erlesen aus.«
Violet war sicher, dass Claire sogleich dahinschmelzen würde, falls einer dieser »eleganten jungen Herren« ihr Avancen machen würde.
Wenn doch nur einer von ihnen ein Quäntchen Technikverständnis hätte, dachte sie verzweifelt. Dann würde sie dem Wunsch ihres Vaters ohne viel Federlesens nachkommen und sanft wie ein Lamm stundenlang zuhören. Doch gewiss würden sie sie wieder mit Gerede über Pferderennen und Spazierfahrten langweilen, die sie unternommen hatten.
Nachdem Mary noch einmal ihren Haarschmuck überprüft hatte, ein auf ihr Kleid abgestimmtes Gebinde aus Seidenveilchen, griff Violet nach ihrem Fächer und eilte dann aus dem Raum. Das riesige Dampfchronometer über der Treppe zeigte ihr an, dass sie zu spät war. Inzwischen trafen bereits die ersten Gäste ein, und es wurde erwartet, dass sie als Tochter des Hausherrn zugegen war, um sie zu begrüßen.
Allerdings wusste Violet auch, dass die wirklich wichtigen Leute immer ein wenig zu spät kamen, damit sie ihren Einzelauftritt hatten. Da Lord Stanton dem Rang nach höher stand als ihr Vater, würde er gewiss noch nicht zugegen sein.
»Mr und Mrs Hathaway!«, verkündete Alfred von der Tür her, als Violet die Treppe hinuntereilte. Eher zufällig blickte sie zur Seite und erhaschte einen Blick auf einen in eine schwarze Uniform gekleideten jungen Mann, dessen linkes Auge von einer Augenklappe bedeckt wurde. Sein schwarzes Haar fiel ihm lose und vor allem lang auf die Schultern, eigentlich ein Unding in der Infanterie. Eine weiße Strähne leuchtete an seiner linken Schläfe.
Violet blieb wie angewurzelt stehen. Die Art, wie sich dieser Mann bewegte, ging durch Mark und Bein. Zunächst wollte ihr kein Vergleich einfallen, zu gefesselt war sie vom Anblick seiner weißen Haarsträhne, die von Weitem wie eine Feder wirkte. Doch dann wusste sie es. Er ging wie ein Panther, der sich auf Beutesuche durch ein Waldstück bewegt. Und dabei war er so attraktiv, dass Violet sogleich von Hitzewallungen überfallen wurde. Wer war das?
Nachdem der Fremde im Ballsaal verschwunden war, lief sie rasch die Treppe hinunter. Es gehörte sich eigentlich nicht, einem Gast nachzulaufen, aber in diesem Augenblick wollte sie einfach nur seinen Namen wissen – oder zumindest in Erfahrung bringen, zu wem er gehörte.
»Ah, da bist du da!«, rief eine Stimme, kaum dass Violet die Treppe hinter sich gelassen hatte. Lady Emmeline versuchte ihre Aufgebrachtheit zu kontrollieren, doch die roten Flecken auf ihren Wangen sprachen Bände. »Violet, wo warst du so lange?«
»Beim Anziehen, Mutter, tut mir leid.«
»Ich werde den Mädchen gehörig die Leviten lesen, wenn der Ball vorüber ist. Oder hast du sie etwa wieder mit irgendwelchen Gesprächen aufgehalten?«
»Nein, Mama. Das Kleid war nur so kompliziert zu schließen. Außerdem hat die Küchenmaschine die Mädchen nervös gemacht.«
Lady Emmeline
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