Bomann, Corinna - Clockwork Spiders
ihm unter minimaler Kraftanstrengung, das schwere Regal so weit zur Seite zu schieben, dass er hindurchschlüpfen konnte.
Da es hier unten stockdunkel war, schaltete er die Grubenlampe an seiner Stirn an und betrachtete die Weinflaschen. Dann griff er in seine Tasche und holte ein kleines Kästchen hervor. Es behagte ihm nicht, auf den Zufall zu vertrauen, doch in diesem Augenblick ging es nicht anders. Rasch entleerte er den Inhalt des Kästchens in einen bauchigen Krug, den der Butler benutzen würde, um Wein aus einem der Fässer abzuzapfen, dann zog er sich zurück. Seine Gehilfin würde alles Weitere besorgen, wenn es an der Zeit war.
Nur ein leises Summen war zu hören, als er die Draisine wieder in Betrieb nahm und zurück in Richtung Highgate fuhr.
*
Etwa zur gleichen Zeit schritt Annabelle Sharpe, die Spionagechefin der Königin, unruhig in ihrem Büro auf und ab. Seit drei Stunden schon waren zwei ihrer Agenten im Zusammenhang mit einem wichtigen Dokument unterwegs in London. Dass bisher noch keiner von ihnen wieder aufgetaucht war, begann sie zu beunruhigen, denn Aufträge wie diese wurden im Allgemeinen rasch erledigt.
Hatten die Österreicher Lunte gerochen?
In den vergangenen Tagen hatte sich der Verdacht erhärtet, dass in den Reihen der österreichischen Gesandtschaft ein Spion war, der vorhatte, technische Errungenschaften Ihrer Majestät zu rauben. Es ging wohl um die neuen Flugtechnologien, an denen die besten Wissenschaftler des Landes arbeiteten. Die Österreicher waren ein ernst zu nehmender Gegner, was die Entwicklung von Kriegsmaschinen anging. Auf keinen Fall durfte ihnen ein Blick auf die neueste englische Technik gewährt werden.
Das plötzliche Rattern des Telegrafen ließ sie zusammenzucken. Ein Unding bei ihr, die als die nervenstärkste Frau des Königreiches bekannt und berüchtigt war. Doch in diesen Tagen erkannte sie sich manchmal selbst nicht. Wenn die Zeiten nur nicht so beunruhigend wären!
Während sie zum Ticker ging, der nun begann, unter lautem Schnaufen ein Band mit einer chiffrierten Nachricht auszuspucken, erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild. In ihrer eng geschnürten schwarzen Ledermontur, die einem Pilotenanzug glich, hätte man sie leicht für einen Mann halten können, wäre da nicht ihr runder Busen gewesen. Ein weiteres Attribut ihrer Weiblichkeit waren ihre lockigen Haare, die nachlässig zu einem Zopf gebunden waren. Ein Spitzenkragen und die Spitzenmanschetten ihrer Bluse nahmen dem Anzug die Härte, schließlich wollte Annabelle nun auch nicht ganz und gar wie ein Mann wirken. Mannweib nannten die Frauen der Gesellschaft sie sowieso schon, doch das machte ihr nichts aus. Da sie das Vertrauen der Königin genoss und zudem einer guten Familie entstammte, perlten die spitzfindigen Bemerkungen von ihr ab.
Als das Gerät fertig war, entnahm sie den Papierstreifen und machte sich sofort an die Dechiffrierung. Als sie damit fertig war, ließ sie sich auf ihrem Stuhl zurücksinken.
Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, in den nächsten Tagen irgendein gesellschaftliches Ereignis zu besuchen, aber die Nachricht, dass eine ihrer Zielpersonen aus Indien zurückgekehrt war, ließ ihr keine andere Wahl. Sie musste an dem Ball der Adairs teilnehmen. Denn wenn ihr Informant recht hatte, würde das Königshaus schon bald in großer Gefahr schweben.
4. Kapitel
Am Nachmittag vor dem Ball glich Adair House einem Ameisenhaufen, in dem ein vorwitziges Kind mit einem Zweig herumgestochert hatte. Dienstmädchen und angeheuerte Hilfskräfte liefen einander beinahe über den Haufen, während Alfred ein wenig krampfhaft versuchte den Überblick zu behalten. Unten ratterte die Stromburgh-Küchenmaschine beinahe unaufhörlich und zwischendurch so laut, dass sich die geladenen Musiker beschwerten, die dampfbetriebenen Verstärkungsgeräte würden nicht ausreichen, um die unliebsamen Geräusche mit ihrer Musik zu übertönen.
Auch Violet ging das ewige Brummen und Knattern auf den Geist. Das also ist gute Wertarbeit ä la Stromburgh, dachte sie spöttisch, und während sie von den Dienstmädchen angekleidet wurde, schielte sie immer wieder zu der Schublade, in der sie ihr Nothandwerkszeug aufbewahrte. Vielleicht könnte sie das kleine Etui unter ihrem Kleid nach unten schmuggeln. Nur ein paar Schrauben anziehen, den Gasdruck regulieren und eine Winde schmieren, dann wäre der Lärm um ein gutes Stück reduziert. Doch wahrscheinlich würde sie, sobald sie sich
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