Bonbontag
läutete.
Lange.
Er schlug mit der Faust gegen die Tür.
Versuchte die Finger zwischen Tür und Rahmen zu schieben. Mit den Fingerspitzen die Tür aufzureißen. Vergebens.
Wieder schlug er dagegen. Fest, das ganze Treppenhaus hallte von den Schlägen wider.
»Gibt’s da oben ein Problem?«, rief jemand von unten, ein Mann mit ängstlicher Stimme.
»Soll ich die Polizei rufen«, rief eine Frau, fragend und drohend zugleich.
Zessi Prinzessin. Mira Mira Mirabella. Halt durch. Ja?
Tür auf. Auf den Lüftungsbalkon.
Alarm, Alarm ... da hilft jetzt nichts ... jetzt einfach nur viuuhh ...
Bis zu den Knöcheln im frischen Schnee auf dem Balkon. Das Fenster ein halbes Stockwerk tiefer. Einen Meter entfernt, schräg unten.
Du bist nicht weit weg ... Och du ... ganz nah bist du ...
In der Ecke des Balkons ein Besen. Ein Griff nach den Borsten, ein Schlag mit dem Stiel gegen das Fenster, gedämpftes Scheppern.
Tomi reckte sich immer weiter übers Balkongeländer. Klopfte mit dem Besenstiel ans Fenster. Man hörte es im ganzen Hof. Er schlug gegen die Scheibe, schlug immer heftiger. Ein Klirren. Offenbar sprang die äußere Scheibe. Er schlug erneut zu. Der Sprung gab nach, es entstand ein Loch im Glas. Von Schlag zu Schlag wurde es größer.
»He, was macht der da?«, rief jemand im Hof.
Der obere Rand der Jalousie hing halb herab, der Luftzug bewegte den Vorhang dahinter, es entstand eine kleine Lücke. Tomi zog die Taschenlampe aus der Hosentasche. Richtete das Licht auf die Lücke. Man sah nur einen schmalen Streifen Fußboden.
Da hilft nichts ... Der Doc muss ran.
Er hielt sich mit beiden Händen am Balkongeländer fest, streckte sich mit dem Fuß nach der Fensteröffnung.
»He, da oben!«
Tomi blickte nach unten.
22
Bis zu Paula Vaaras Hauseingang waren es nur gut hundert Meter.
Sie hatten noch nicht viele Schritte gemacht, bis sie den Jungen sahen.
Auf dem Lüftungsbalkon zwischen dem vierten und dem fünften Stock. Genauer gesagt nur zur Hälfte auf dem Balkon, höchstens. Zur Hälfte außerhalb, wo er sich über dem Abgrund nach einem eingeschlagenen Fenster streckte.
23
Fuchtelt nur rum, ihr Scheißkerle ...
Scheiß Max vor allem.
Hat den Doc betrogen.
Ist ein Freund der Kobra ... Bussi, Bussi, alte Hexe.
Du bist nicht Mad ... Null. Bloß ein Blödmann ... Arsch ...
Ich muss es ganz allein tun ... Macht nix ... Wenn es sonst keiner macht, dann eben der Doc.
Loch in die Scheibe und ...
Kann klappen.
Sie fuchteln wie die Wilden ... Sogar die Bullen ... Kommt nur alle her, ihr Scheißkerle ...
Der Doc ist im Einsatz.
Die Schwachmeier fuchteln ...
24
Die eigene Stimme klingt so weit weg, als wären die Ohren zu. So fühlte es sich im Nachhinein an.
Komm ... Würdest du bitte auf den Balkon zurückkommen.
Sei so lieb und komm rein.
Der Hausmeister wird jeden Moment da sein. Ganz bestimmt. Und dann gehen wir rein. Ganz, ganz bestimmt.
Der Junge im Licht des Kühlschranks. Der Junge, der wartete. Der Junge, den niemand sieht. Auf den niemand wartet.
Außer dort hinter dem Fenster.
Die Menschen, die im Treppenhaus vor dem Balkon knieten, trugen Uniformen, hatten Titel, Kompetenzen, Ansichten, Erfahrungen. Dennoch war es, als hätten sich sämtliche Polizisten, Sozialarbeiter, Feuerwehrmänner und Passanten versammelt, um den Jungen um Rat anzuflehen. Oder um Gnade.
Denn der Junge hatte etwas, was keiner von ihnen, keiner von uns hatte. Keiner hatte die Zeit, keiner war fähig, sich um das eine Mädchen so zu sorgen wie der Junge. Nur der Junge besaß, was man dafür brauchte. Nur der Junge hatte alle Zeit der Welt.
In jener Sekunde, als er die Hand über den Abgrund hinweg ausstreckte , erzählte Katri noch Jahre später in ihren Vorlesungen.
25
Der Junge streckte die Hand nach dem Fenster aus.
Feuerwehrleute kamen angerannt und breiteten ein Sprungpolster unter dem Balkon aus. Der Leiterwagen näherte sich quälend langsam.
Katri streckte an der Balkontür die Hand aus.
Der Junge reckte sich weiter nach dem Fenster.
Katri spürte einen Ruck.
Jemand zog an ihrer Handtasche.
Ari? Was sollte das?
Nicht an ihrer Handtasche, sondern an der anderen, die daneben hing, Paulas Tasche.
»Gib her!«, befahl Ari.
Fast mit Gewalt nahm Ari die Handtasche an sich und kippte den Inhalt auf den Fußboden vor der offenen Balkontür. Handys, Schokoriegel, Portemonnaie, Visitenkarten, Krimskrams.
Er pickte die Schlüssel heraus.
»Tomi!«, rief Ari. »Doc ... Kilmore!«
Tomi drehte sich um,
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