Bonbontag
wollte nicht zuerst hineingehen. Er hielt sich den Fluchtweg offen. Vielleicht war das klug. Vielleicht ist das klug, wenn man als kleiner Junge mit einem fremden Mann mitgeht.
Ari versuchte den Gedanken wegzuwischen, aber es war bereits zu spät. Er blickte sich um, sah er denn aus wie ein Pädophiler? Zum Glück hatte ihn niemand gesehen.
Im Hausflur beeilte er sich, den Augen der Nachbarn zu entkommen.
Sie gingen die wenigen Stufen zum Aufzug hinauf. Ein Stockwerk über ihnen hörte man Schlüssel klimpern. Ari kannte das Geräusch.
»Guten Tag«, rief die alte Fredriksson nach unten. Zwar schien sie weiter mit dem Öffnen oder Schließen ihrer Sicherheitsschlösser beschäftigt zu sein, aber mit ihrem Gruß gab sie zu verstehen, dass sie Ari sehr wohl gesehen hatte.
»Scheiße«, seufzte Ari halblaut, worauf der Junge ihn sofort ansah. So verdammt typisch, dachte Ari. Immer traf er die Fredriksson, wenn etwas nicht ganz korrekt war. Wie zum Beispiel damals, als er beschlossen hatte, endlich die zwei Tüten mit leeren Weinflaschen, die seit einem Jahr im Schrank gestanden hatten, in den Supermarkt zu bringen. Die Tüten hatten klimpernd neben seinen Knien gebaumelt, als die Fredriksson seine Unterschrift gegen ein Alkoholikerheim haben wollte, das anderthalb Kilometer weiter gebaut werden sollte.
»Ich fahre übers Wochenende aufs Land«, tönte sie jetzt und kam die halbe Treppe herunter, um Blickkontakt zu bekommen. »Nur um nach dem Rechten zu sehen, weil es letzte Nacht so gestürmt hat.«
Ari kannte die Fortsetzung, die er schon zig Mal gehört hatte, und drückte auf den Aufzugknopf.
»Es ist immer gut, wenn die Nachbarn die Augen offenhalten, darum sag ich Ihnen das«, fuhr die Fredriksson fort. »Wenn sich in der Wohnung was rührt, rufen Sie einfach die Polizei an ... Heutzutage ist das ja ... Haben Sie gestern Aktenzeichen gesehen? Kann ich nur empfehlen. Leute, die einen ganz kultivierten Eindruck machen, können ... Vor den Ohren eines Kindes sagt man das besser gar nicht.«
Warum kann man nicht ganz normale, verstockte, stumme finnische Nachbarn haben, dachte Ari verzweifelt.
Er merkte, wie der Junge sich hinter ihm versteckte. Die alte Fredriksson hatte etwas Furchterregendes an sich. Aber indem er sich verbarg, zog er erst recht die Aufmerksamkeit der Frau auf sich.
»Aha, ist das ...«, fing sie an, konnte den Jungen aber nicht einordnen. Ari wusste, dass sie nicht lockerlassen würde, bis sie eine Antwort hätte.
»Dann gute Fahrt aufs Land«, versuchte er es, als der Aufzug kam.
»Und dieser junge Mann hier ist ...«, sprach die Fredriksson weiter, kam noch ein paar Stufen herunter und zauberte ein gruseliges Lächeln auf ihr Gesicht.
Der Junge ging noch mehr in Deckung.
»Ein Freund von unserer Anni«, sagte Ari und öffnete die Aufzugtür.
»Ach, sind Frau und Tochter schon zurück?«, rief die Fredriksson, als das Aufzuggitter zu glitt. Ihre Stimme klang argwöhnisch.
Ari beschloss, die Frage zu überhören, und drückte hastig auf den Etagenknopf. Der Kommentar der Nachbarin ging im Startgeräusch des Aufzugs unter. Hatte sie gerade etwas über Manieren gesagt?
Der Aufzug war nicht groß, sie standen keine Armlänge voneinander weg, versuchten aber Abstand zu halten. Geradeso wie verlegene Nachbarn. Der Raum war zu klein, umsich zu unterhalten, zu intim. Kein Wort wurde gesprochen, sie hörten nur den Aufzuggeräuschen zu, dem kleinen Poltern bei jeder Etage.
Forsch öffnete Ari im dritten Stock das scheppernde Aufzuggitter und machte fünf energische Schritte zur Wohnungstür.
»Hier«, sagte er, um etwas zu sagen, erleichtert, wieder sprechen zu können.
»Ja«, sagte der Junge.
Ari öffnete die Tür. Nicht gleich sperrangelweit, sondern erst einen Spaltbreit. Der Junge schlüpfte rasch hinein. Stand leicht geduckt im dunklen Flur, fluchtbereit. Aber irgendwie auch sehr erleichtert.
Verfolgte ihn jemand? Das kam Ari plötzlich in den Sinn.
Sie sahen sich im Flurspiegel an. Ihre Blicke trafen sich. Hast du vor etwas Angst, wollte Ari schon fragen.
»Willst du deine Jacke aufhängen?«, fragte er und schwenkte einen Bügel.
Der Junge zog den Anorak aus, behielt ihn aber im Arm, ein grauer Kapuzenpulli kam zum Vorschein, auf dessen Vorderseite ein Monster die Zähne fletschte. Das sah nicht böse aus, eher witzig. Der Junge streifte die Schuhe ab.
»Geh rein, dann ...«, sagte Ari, aber die Worte führten ihn nirgendwohin.
Was dann?
Der Junge zögerte kurz, wusste
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