Bonbontag
beginnen?
Guten Morgen. Ich heiße Katri Korhonen.
Das Thema meiner Vorlesung lautet »Die Begegnung mit dem Kind – aus der Perspektive einer Sozialarbeiterin im sozialen Notdienst des ASD«.
Aber worüber reden wir eigentlich, wenn wir über das Kind, über die Kindheit reden? Historikern zufolge ist die Kindheit eine Erfindung, und zwar eine moderne Erfindung.
Im Mittelalter gab es keine Kindheit. Keine geschützte und behütete Entwicklungsphase. Ein Kind war das Eigentum seines Vaters oder seines Herrn. Die gleiche Situation herrschte hier im Norden Europas noch vor zweihundert Jahren. Heutzutage gibt es so etwas nur noch in anderen Teilen der Welt, von wo es in unseren Teil der Welt importiert wird.
Das müssen wir aber nicht hinnehmen. Eine Sozialarbeiterin schon gar nicht.
Indem wir »ihnen« beibringen, wie es »bei uns« ist, machen wir uns eine Selbstverständlichkeit, die viele vergessen haben, wieder bewusst: Kinder sind nicht das Eigentum ihrer Eltern. Es gibt keinen Besitzanspruch auf Kinder.
Unsere Kinder gehören uns nicht, aber wir tragen die Verantwortung für sie.
Die Verantwortung gehört uns. Die Grenzen zwischen dieser Verantwortung und der Solidarhaftung sind im Kinderschutzgesetz festgelegt, wo ...
Katri schaute auf ihren Text.
Laienpredigerin K. Korhonen? War dieser Einstieg zu aufgeblasen? Die Wahrheit sagte er allemal.
Der Junge im Licht des Kühlschranks. Seine Mutter hatte nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus angerufen. Mal weinend, mal wütend hatte sie immer wieder gesagt: »Das ist mein Kind! Verstehen Sie das nicht? Es gehört mir!«
Ich hatte Angst zu fragen ...
»Du bist aber früh dran«, meinte Petri, der unter der Tür stand.
»Ja, ja, ich hab da diese ... Vorlesung.«
»Du musst dich nicht stressen, sind doch alles Studenten.«
»Viel zu sagen, wenig Zeit.«
»Du machst einfach am Anfang einen Witz, dann geht alles wie von selbst.«
»Einen Witz?«
Katri hörte zerstreut zu, wie Petri sich die Anekdote von der neuen, energischen Praktikantin in Erinnerung rief, die den Chef mit einem Klienten verwechselt hatte.
»So etwas kommt in den besten Familien vor«, zitierte Petri die Praktikantin und lachte.
Alle möglichen Probleme, alle möglichen Familien, alle möglichen Studenten. Die Welt voll mit neuartigen Apparaten, aber mit den selben alten Problemen. Wie muss man in der heutigen Welt des Internets reden?
Hi, Leute. Ich wollte nur mal sagen, dass es kein Copyright auf Kinder gibt.
6
Der Junge blieb lange auf der Toilette. Ari wartete im Flur, blickte auf die Klotür, lauschte. Du bist der reinste Spion, tadelte er sich, rührte sich aber nicht von der Stelle.
Schließlich plätscherte es. Dann ein leises, helles Geräusch, der Junge zog den Kapuzenpulli aus, etwas klimperte in den Taschen. Wasser lief ins Waschbecken. Lange. Gründliches Händewaschen. Zeitweise nahm das Wassergeräusch sogar noch zu.
Dann stoppte es abrupt.
Das Handtuch raschelte, auch das dauerte seine Zeit. Wieder das Klimpern. Der Junge zog den Pulli an.
Ari ging leise ins Wohnzimmer, dachte nach. Er musste Klarheit schaffen, je schneller, desto besser. Es war höchste Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.
Die Klotür ging auf, der Junge schlurfte ins Wohnzimmer. Irgendwie widerwillig. Er wusste, dass gleich Fragen auf ihn zukämen. Als würde er zur Schlachtbank geführt, dachte Ari.
»Also, wo waren wir stehengeblieben?«, fing Ari an.
Der Junge ging direkt zum Fenster und starrte in die mittlerweile noch dichtere Dunkelheit. Hier und da brannte ein mickriges Licht.
»Wegen deiner Situation noch mal ...«
»Was machst du?«, fragte der Junge.
»Wie bitte?«
»Arbeitest du irgendwo?«
Ari hatte das Gefühl, als spielte der Junge auf Zeit.
»Ja, also ... ich bin Freelancer. Ich schreibe. Aber vielleicht klären wir erst mal ...«
»Was ist ein Freelancer?«
»Na ja, das bedeutet ... ich schreibe Artikel für verschiedene Zeitungen und so und alles mögliche andere. Aber ...«
»Schreibst du Bücher?«
»Also, ehrlich gesagt ja ...«, gab Ari zu. Er war irritiert, wie immer, wenn man ihn fragte, was er machte, geriet er in Verteidigungshaltung. »Aber im Moment schreibe ich ein Drehbuch für einen Film. Jetzt noch mal zurück zu meiner Frage ...«
»Für einen Film ... echt wahr?«, fragte der Junge mit großen Augen und unverhüllter Bewunderung.
»Ja, schon, aber ...«
»Wovon handelt der?«
»Das ist so eine Geschichte für Erwachsene, ein kleiner
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