Bonbontag
später noch Verwendung finden. Es war angenehm, diesen nächtlichen Augenblick allein im Pausenraum zu verbringen. Auf dem etwas kantigen Holzstuhl zu sitzen, den der abgenutzte Stoffbezug nur bescheiden polsterte. Das Fenster, klein und dunkel, erinnerte an die Nacht, die Stadt und die Menschen, von denen bald jemand zum Telefon greifen und berichten würde, er habe aus der Nachbarwohnung das herzzerreißende Schreien eines Kindes gehört, und es erinnerte daran, dass bald wieder Schritte zu hören wären, draußen auf dem Gang, wo Katri gerade so zufrieden gegangen war, ihre Schritte und die von anderen. Es erinnerte sie auch daran, dass ihr Mann Risto und die Kinder jetzt im ersten Stock ihres Reihenhauses schliefen, tief und fest und weich und wunderbar. Katri rührte in ihrem Kaffee, betrachtete den schwarzen Strudel. Friedlicher, bewusstloser Schlaf, weit weg von jedem blendenden Lichtkegel, der alles Schreckliche in der Dunkelheit enthüllte, manchmal auch das Schönste.
Ein kleines Mädchen. Oder ein kleiner Junge. Ein unsichtbares Kind.
Die Gedanken sprangen störend hin und her.
Ganz bestimmt kommt die Mama ...
Diese Geschichte ging gut aus. Sie passte zur Vorlesung, als herausragendes Beispiel. Mitten im Chaos ein gerettetes Kind. Aus der Finsternis ans Licht. Man musste da etwas vereinfachen, im Namen der Deutlichkeit.
Was hatte der Schriftsteller wissen wollen? Wie man das aushält? Was hatte das mit Aushalten zu tun?
Als Erstes hatte sie einen Fall, der von der Tagschicht übrig geblieben war, erledigt: Zugfahrkarte für einen Flüchtling zurück zum Aufnahmelager in Mittelfinnland. Dann hatte Katri eine Mutter beruhigt, die sich um ihren Sohn Sorgen machte, wegen dessen Depressionen und starken Medikamentengebrauchs. Katri hatte sich über die Hintergründe informiert und versprochen, dass sich in Kürze jemand vom Jugendamt melden würde. Als Nächstes hatte sie sich telefonisch versichert, dass sich bei dem Schulkind, dessen Mutter wegen Halluzinationen in die Klinik eingewiesen worden war, eine erwachsene Aufsichtsperson befand.
Probleme und Maßnahmen. Lösungen, provisorische, in der ersten Not. So gut man konnte, musste man die Dinge erledigen, die nicht bis zum nächsten Morgen warten konnten. Eine vollkommen andere Tätigkeit als die im Jugendamt.
Katri war zufrieden, zufrieden mit ihrer Arbeit, zufrieden mit der Nacht, zufrieden, dass die Schichten so lagen, dass sie am Anfang und am Ende der Skiferien mit den Kindern zusammen sein konnte, zufrieden, dass sie in zwei Tagen mit ihren Töchtern auf einem See Schlittschuh laufen würde, und am Abend würden sie zum Himmel schauen, unddort, in der Nacht, wäre anstelle der kleinen matten Fensterscheibe hier im Pausenraum wirkliches Schwarz zu sehen, gesprenkelt vom himmelweiten, explodierenden Sternenmeer.
Katri hörte Petris Schritte. Er blieb an Sannas Tür stehen, fragte etwas, Katri freute sich auf die Gesellschaft der beiden. Man soll sich nicht zu tief in seine Gedanken hineinbohren.
Katri stellte innerlich eine Liste mit den Sachen auf, die ihre Töchter mit aufs Land nehmen mussten, Handschuhe zum Wechseln wären gut und die dicken Wollsocken, man musste darauf achten, dass Marja eine gescheite Mütze einpackte ...
Die Mütze, die blau-rot gestreifte Mütze landete mit Schwung vor ihr. Die Mütze, die der Mann, dieser Ari, vor ihren Augen geschwenkt hatte. Die Mütze des Jungen? Das amüsierte Katri, aber sofort meldete sich auch das schlechte Gewissen. Wieder einmal war der professionelle Zynismus angesprungen, nicht absichtlich, aber es hatte gewirkt. Hatte den Mann nervös gemacht, ihn durcheinandergebracht.
Die Bonbontüte, fiel Katri ein, die hatte sie vergessen aufzuschreiben. Der Mann hatte dem Jungen eine Tüte Bonbons bezahlt. War das nicht wesentlich? Und dann noch die Schokolade. Ein Schokoladenonkel? Nein, sie glaubte das nicht im Ernst.
Man kann nicht alles aufschreiben. In seiner Nervosität hatte der Mann weiß Gott was von sich gegeben.
Wieder überkam sie ein unangenehmes Gefühl. Der Schriftsteller hatte erwähnt, dass er den Jungen zwischenzeitlich kurz aus dem Blick verloren hatte. Der unsichtbare Junge ...
Schon kehrte die Vorlesung in die Gedanken zurück. Die unsichtbaren Kinder. Sollte sie dieses Thema doch aufgreifen?
Nun lass endlich die Vorlesung in Ruhe!, wies sich Katri selbst zurecht. Konzentriere dich auf die Gegenwart.
Wie war noch der Name, den der Junge sich ausgedacht hatte? Doktor ...
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