Bonbontag
aus der Wohnung das böswillige Lachen des Mannes.
Die meldende Person war sehr aufgebracht, weshalb die Zuverlässigkeit ihrer Zeugenaussage schwer einzuschätzen ist.
MASSNAHMEN:
Die persönlichen Daten des Mannes und die Angaben zu der betreffenden Wohnung sind im Personenverzeichnis überprüft worden.
Der Mann heißt Ari Anttila. Laut Adressenverzeichnis lebt er zusammen mit seiner achtjährigen Tochter und deren Mutter (vermutlich Anttilas uneheliche Lebensgefährtin) in der Wohnung. Eintragungen über einen minderjährigen Jungen, der ebenfalls dort lebt, gibt es nicht.
WEITERE MASSNAHMEN:
Mit Ari Anttila wird telefonisch Kontakt aufgenommen.
EMPFÄNGER DER MELDUNG:
Helena Lind
Sozialarbeiterin
Jugendamt West
2
Ari fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er im Dunkeln auf die tickende Uhr an seinem Handgelenk zu schauen.
Was ... Wo?
Der kleine abscheuliche Moment, wenn man nicht sicher ist, ob man verschlafen hat, und nicht weiß, was für ein Tag ist, was man alles zu tun hat. Und wo man ist.
In Annis Zimmer.
Der zweite abscheuliche Moment, als er sich erinnerte. Der Junge im Schlafzimmer, die Besprechung, das Manuskript.
Der dritte ... Der dritte Moment und die Erleichterung. Der Blick auf die Uhr sagte, dass er rechtzeitig aufgewacht war, er hatte Zeit, die Augen aufzubekommen, nachzudenken. Zu überlegen, wie es jetzt weitergehen sollte.
Nach dem Aufstehen wäre er fast gestolpert, weil eine Puppe aus dem Bett gefallen war und im Weg lag.
Das Wasser strömte heiß aus der Dusche. Keine kalte Abhärtung, keine Schocktherapie, jetzt ging es darum, Wärme aufzunehmen.
War da ein Geräusch? Ein Klingeln? Die Tür?
Ari stellte die Dusche ab, lauschte. Er zog sich den Bademantel über und lief triefend in den Flur. Spähte durch den Türspion. Im Treppenhaus brannte Licht, aber es war niemand zu sehen. Er öffnete die Tür. Eine Etage tiefer rastete gerade das Sicherheitsschloss ein. Die alte Fredriksson? Er musste sich ihr gegenüber noch erklären, aber erst später.
Er ging nach Tomi schauen. Der Junge schlief einen friedlichen Kinderschlaf, alle Sorgen wie weggeblasen.
Nur die blauen Flecken nicht. Sie waren als unschön an den Armen zu erkennen.
Ari zog sich rasch an, setzte Kaffee auf, deckte den Frühstückstisch und überflog die Zeitung.
Die Milch. Verflixt. Der Junge hatte am Tag zuvor die Kaffeemilch getrunken. Schnell in den Supermarkt? Er traute sich nicht, den Jungen allein in der Wohnung zu lassen. Wer wusste, auf was für Ideen Tomi in der Zwischenzeit käme. Womöglich haute er wieder ab. Was allerdings so manches Problem lösen würde ...
Ari ging mit einem Brot in der Hand ins Arbeitszimmer,machte den Computer an. Ein Blick auf die Nachrichtenseiten: möglicherweise starke Schneefälle am Nachmittag. Danach sinkende Temperaturen. Echter Winter im Anzug, sollte man das glauben?
Er sah erneut auf die Uhr. Allzu viel Zeit hatte er nicht mehr, ein Gang zum Supermarkt war vollkommen unrealistisch. Besser wäre es, die Zeit anders zu nutzen ... Nein, er konnte jetzt nicht anfangen, das Manuskript neu zu schreiben. Es war besser, den Jungen möglichst bald zu wecken. Ihn weiterzubefördern. Das ganze Durcheinander loszuwerden.
»Nun wach schon auf!« Es kam ziemlich unwirsch. Er schüttelte den Jungen an der Schulter, sein Griff war sanfter als seine Stimme.
»So langsam könntest du schon wach werden«, fuhr Ari versöhnlicher fort.
Der Junge schlug die Augen auf, schloss sie wieder.
»Das Frühstück wartet, versuch langsam mal ...«
Tomi öffnete die Augen. Sie waren müde, aber der Blick war fest, offen. Keine Angst, keine Verwirrung, nur ein fordernder Blick direkt in die Augen.
»Gehen wir nach Mirabella sehen?«
»Nein. Jetzt frühstücken wir.«
Am Appetit des Jungen war nichts auszusetzen. Mehrere Brote gingen weg, und die zuvor halbvolle Saftpackung war bald leer.
»Gehen wir dann ganz bald?«, fragte Tomi.
»Wir müssen ... nachdenken«, antwortete Ari und verzog das Gesicht, als er vom viel zu starken schwarzen Kaffee trank.
Tomi hatte den Mund voll, aber sein Anliegen konntenicht warten. »Wir gehen hin und fragen, ob sie rauskommt. Es ist ganz in der Nähe.«
»Aber ... Warum kannst du nicht alleine hingehen?«
Tomi sah aus, als bräche er jeden Moment in Tränen aus. Zornig biss er in sein Brot.
»Weil die mich hauen.«
Ari sah auf die Uhr. Es war deutlich später als bei seinem
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