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Bonbontag

Bonbontag

Titel: Bonbontag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Nummi
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ein Dienstvergehen gewesen. Der Junge hatte einfach zufällig auf sie geschaut.
    Was ist das eigentlich: Liebe? Irreführendes Gerede, ziemlich oft jedenfalls. Affektiertheit, Dekor, Vorwand. »Um der Liebe willen.« Besser wäre es, davon zu reden, dass man sich etwas aus jemandem macht. Was kommt dann noch hinzu? Dieses gewisse Etwas zwischen den Zeilen, zwischen den Taten. Wenn es so sein soll.
    Ihre Aufgabe bestand darin, zu helfen, nicht darin, sich etwas aus jemandem zu machen. Wenn sie sich zu viel aus den Leuten machte, würde ihr das in ihrem Job nicht helfen, sondern ihr die Arbeit nur erschweren. Ihre Aufgabe bestand nicht darin, zu weinen oder sich erschüttern zu lassen, sondern zu handeln.
    Dem Hilfsbedürftigen hilft es nicht, wenn der Helfer mit ihm untergeht.
    So könnte man es zusammenfassen.
    Katri war stolz auf ihre fachliche Kompetenz. Liebe – nein danke, nicht bei Amtsmaßnahmen.
    Aber damals, vor vier Jahren, hatte sie Angst davor gehabt, die Sozialarbeiterin im Jugendamt anzurufen. Weil ihr ein Fehler unterlaufen war. Ein Dienstfehler.
    Sie ... hatte sich zu viel aus dem Jungen gemacht.
    Katri schaute auf den Text, den sie in der Nacht geschrieben hatte.
    Was blieb übrig, nach all den Streichungen?
     
    Kinder, deren erste Lebensjahre mit außergewöhnlich schweren Erfahrungen verbunden sind, entwickeln die Fähigkeit, auf eine Weise zu erstarren, dass sie gewissermaßen unsichtbar werden.
    Wir als Sozialarbeiterinnen müssen versuchen, gerade diese Kinder zu sehen.
     
    Das war die Frage. Wie sieht man das Kind? Wie schaut man das Kind an? Wie hört man seine Stimme?
    Irgendwo erschallte ein Ruf.
    Genau genommen ganz in der Nähe.
    »Mama!«
    Sie fuhr aus ihren Gedanken hoch.
    »Ja, ich komme.«
7
    »Und ... was machen wir jetzt?«, fragte Tomi schließlich.
    Ari starrte mit Tasche und Tüte in den Händen wie gelähmt dem Auto hinterher, das längst verschwunden war und nicht zurückkehren würde.
    Er fluchte. Dann machte er zwei entschlossene Schritte auf die eigene Haustür zu, blieb stehen, sah auf die Uhr. Kam zurück, schwenkte zornig sein Gepäck.
    »Ich kann ja ...«, fing Tomi vorsichtig an. »Irgendwo warten.«
    »Jetzt rufen wir sofort deinen Vater an, verdammt noch mal«, stöhnte Ari.
    Tomi nickte. Zu Aris Erstaunen zog der Junge auf der Stelle das Handy aus der Tasche. Er wählte, hielt es ans Ohr und blieb dabei dicht neben Ari stehen. Er wollte wohl zeigen, dass er sein Bestes tat.
    Die Verbindung war da, Ari hörte das Läuten, aber dann wurde die Verbindung unterbrochen. Tomi rief erneut an, und diesmal meldete der Automat, die gewünschte Nummer sei derzeit nicht zu erreichen.
    »Er hat sein Handy nicht an«, sagte Tomi kleinlaut.
    Ari holte tief Luft, war kurz davor, einen Schwall vonFlüchen auszustoßen, ließ es dann aber bleiben. Er sah den Jungen an, er konnte nicht anders. Er sah ihn geduckt dastehen. Verknotet. Stehend, aber völlig zusammengesackt, wie eine Pflanze, die kein Wasser bekommen hat. Verkümmert.
    Ari stand neben ihm, aber das machte es nur schlimmer.
    Ein Zeuge, ein Beobachter. Steigerte die Demütigung und die Scham. Steigerte die Einsamkeit.
    Die Mutter weggefahren, die Stimme des Vaters verschwunden. Niemand wollte den Jungen bei sich haben.
    Er kann zerfallen. Plötzlich spürte Ari das. Der Junge kann zerfallen. Der Junge ist kurz vorm Zerfallen.
    Anstatt zu fluchen, seufzte Ari, es war ein unbeabsichtigt langes Seufzen. Tomi sah zu ihm hoch, in den Augen blitzte etwas auf, das aber gleich wieder erlosch.
    »Rufst du jetzt die ...«
    »Sozialmiezen an?«
    »Genau.«
    »Willst du, dass ich sie anrufe?«
    Tomi antwortete nicht sofort, er sah Ari verwundert an.
    »Also nicht so ganz wirklich.«
    »War nur ein Scherz, ich hatte schon geahnt, was du sagen würdest.«
    Kurzes Schweigen, Sand und Eis knirschten auf dem Bürgersteig, während sie auf der Stelle traten. Tomi blickte erneut zu Ari hoch, sein Gesichtsausdruck zeigte Unsicherheit.
    »Also, ich meine, rufst du jetzt an?«
    »Natürlich nicht«, hörte Ari sich sagen.
    Er sah, wie sich Freude auf Tomis Gesicht breitmachen wollte und wie der Junge versuchte, es zu verbergen.
    »Aber, aber ...«, redete Ari weiter. »Jetzt müssten wir uns schleunigst überlegen, wie wir das machen. Mal sehen ...Am Nachmittag könnte dein Vater dich holen, so war es doch?«
    Der Junge nickte.
    »Du könntest in der Wohnung warten, und ich komme nach meiner Besprechung so schnell wie möglich zurück ... Wir

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