Bone 01 - Die Kuppel
des Entsetzens annahm. »Oder jemand anderer…«, flüsterte sie. »Jemand anderer könnte sie hierher geschickt haben, genau dorthin, wo wir sind. Bei allen Göttern!« Hektisch rappelte sie sich auf. »Wir müssen gehen! Sofort!«
»Das können wir nicht«, sagte Stolperzunge. »Das heißt, Steingesicht kann es nicht, und ich werde ihn nicht allein hier zurücklassen. Wir alle brauchen etwas Ruhe. Noch einen Tag, Indrani, bitte! Sie werden auch morgen noch da sein. Dann werden wir kräftiger sein, das verspreche ich dir.«
Sie sah sich die Wunde an, die sie erst am vergangenen Abend verbunden hatte. Immer noch sickerte Blut in den Moosverband, und Schweißperlen standen auf Stolperzunges Stirn.
Indrani nickte und setzte sich wieder, aber er sah, wie sehr alle Muskeln ihres Körpers angespannt waren. Er dachte, dass die Aussicht, Menschen zu finden, wo sie sie dringend brauchten, doch sicherlich eine gute Neuigkeit war. Trotzdem machte sie einen sehr verängstigten Eindruck.
Es gab so viel, was er von ihr nicht wusste, wohingegen sie alles über ihn und seinen Stamm zu wissen schien.
»Indrani, warum hast du meine Vorfahren neulich als ›Deserteure‹ bezeichnet?«
»Ich … das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Weil es nicht wahr ist?«
»Stolperzunge …« Sie starrte immer noch auf den Horizont und wühlte mit ihren Fingern den steinigen Boden des Grats auf.
»Bitte stell mir eine andere Frage«, sagte sie schließlich. »Bitte. Es ist nicht so, dass ich dir gar keine Antworten geben will. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wichtig das für mich ist. Manchmal sehe ich dich an, sehe deine Intelligenz, deine Kraft und Energie, und dann denke ich … dann denke ich fast, dass du einer von uns sein könntest. Aber dann sehe ich, wie du tötest. Es macht dir Spaß. Streite es nicht ab! Ich sehe, wie du tötest, und auf deine eigene Art bist du wunderbar, aber du könntest niemals zivilisiert sein.«
»Weil ich jage, um zu essen?«
»Ja, auch das.«
»Auch du hast gejagt, um zu essen.«
»Ich weiß«, flüsterte sie.
»Und noch vor zehn Herzschlägen hast du mir ein Stück Fleisch aus den Händen gerissen. Hat es dir etwa nicht geschmeckt? Wenn du eine Wilde sein kannst, kann ich vielleicht auch zivilisiert sein. Das wäre doch möglich, oder nicht?«
Sie blickten sich in die Augen, und er sah Tränen in den ihren. Aber sie wich seinem Blick nicht aus. Sie nickte und wischte sich dann mit dem Handrücken über das Gesicht.
»Außerdem … was hat die Frage, ob ich zivilisiert sein kann oder nicht, überhaupt mit diesen ›Deserteuren‹ zu tun?«
»Ich …« Sie räusperte sich. »Neulich habe ich deine Vorfahren beleidigt. Das tut mir leid. Dein Volk hat seine Geschichten, genauso wie wir unsere haben. Es ist nur so … wenn du meine Geschichten hörst, würdest du nicht mehr mit mir zum Dach gehen wollen. Sie könnten uns sogar zu Feinden machen …«
»Niemals!«
»Das sagst du, aber wenn es geschieht, bin ich mir nicht sicher, ob ich …«
»Es kann nicht geschehen«, sagte er. »Ich will es nur wissen.«
Sie beugte sich ihm entgegen, fast als wollte sie ihn küssen, und sein Herz klopfte schneller, voller Erwartung des Augenblicks der Freude. Ihr Gesicht verharrte eine Handspanne von seinem entfernt.
»Alle Menschen kamen einst von derselben Welt, Stolperzunge. Damals sind dort schlimme Dinge geschehen. Aber das war vor sehr langer Zeit, und du stehst so weit über all dem, du bist so …« Ihr Blick schien eine halbe Ewigkeit auf ihn gerichtet zu sein, bis sie plötzlich den Kopf zurückriss, als hätte sie sich im letzten Moment gefangen, bevor sie über die Brüstung eines Turms gestürzt wäre. Sie seufzte, rieb sich über das Gesicht und blickte dann wieder auf.
»Du hast alles für mich getan, Stolperzunge. Dadurch hast du deine Heimat verloren und wahrscheinlich auch dein Leben.« Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, und er musste sich sehr zusammenreißen, um nicht genauso zu reagieren. »Trotzdem möchte ich dich noch um einen letzten Gefallen bitten, mein lieber Stolperzunge. Bitte… bitte fordere mich nicht auf, dir diese Geschichte zu erzählen. Und wenn wir lange genug überleben, um den anderen Menschen zu begegnen, wenn es sie wirklich gibt… Ich flehe dich an, frag auch sie nicht. Leider kann ich dir nichts als Gegenleistung bieten, aber …«
»Ich will keine Gegenleistung, Indrani. Ich l …«
Sie legte einen Finger auf seine Lippen. »Danke.«
Dann lag sie
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