Bone 01 - Die Kuppel
anderen.«
»Aber warum sind sie überhaupt hier?«, fragte Indrani. Auch sie schwitzte.
Der Kahlkopf deutete mit einer dramatischen Geste auf Stolperzunge und sprach so laut, dass man ihn auf dem ganzen Platz verstehen konnte. »Ich habe euch gesagt, dass ihr Wilden nicht zu uns zurückkehren sollt! Wir werden nicht auf euer Niveau hinabsteigen! Wir werden nicht schwach!« Er wandte sich an Indrani. »Nun zu dir, Hexe!«, fauchte er verächtlich. »Ich habe nur Mitleid für dich übrig. Du wirst diesen Ort nie mehr verlassen. Auch nicht, wenn du tausendmal stirbst!«
Steingesicht brüllte und wollte vorstürmen. Indrani packte ihn an der Schulter, worauf er zusammenzuckte. »Wir gehen jetzt«, sagte sie. »Wir haben genug gesehen.« Sie drängte Steingesicht in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Dann nahm sie Stolperzunge an der Hand und zerrte ihn und das Mädchen mit sich.
»Warte!« Stolperzunge befreite sich aus ihrem Griff und wandte sich der Menge zu. »Was geht hier überhaupt vor sich?«
»Der Wilde hat einen Sprecher!«, rief jemand.
Er ging nicht darauf ein. »Wir haben dieses kleine Mädchen gefunden und keine Mutter. Ihr habt sie in den Straßen zurückgelassen. Soll sie einfach sterben? Was müssen eure Vorfahren von euch denken?«
Viele Menschen wirkten beschämt, aber der kahlköpfige Mann zog eine finstere Miene. »Wir werden nicht lange hier bleiben, Wilder! Der Tod wird uns retten, genauso wie die Kleine, wenn du sie einfach in Ruhe lässt!«
»Ja!«, sagte jemand im Hintergrund, begleitet von zustimmendem Gemurmel. »Lass sie in Ruhe!«
»Nein!«, rief eine andere Stimme.
Der Kahlkopf blickte sich zur Quelle des Widerspruchs um. Auf einem Dach erhob sich eine junge Frau, mindestens so schön wie Indrani und hochschwanger.
»Eigentlich sollte ich überhaupt nicht hier sein!«, rief sie. »Ich habe nie an euren Blödsinn geglaubt.« Dann geriet sie ins Straucheln. »Autsch! Lass mich los, Großmutter!«
Stolperzunge wusste nicht, was ihn mehr schockierte – dass ein erwachsener Mensch eine lebende Großmutter hatte oder wie die Frau aussah. Knochenweißes Haar lag auf einer Haut, die so runzlig wie Hirnmasse war.
»Du bist doch längst für die Kremation bereit!«, sagte die junge Frau. »Warum musste ich für deinen Glauben sterben?«
Tumult brach auf dem Dach aus, als andere Familienmitglieder die Frau niederrangen und versuchten, sie dazu zu bringen, den Mund zu halten. Sie schimpfte noch eine Weile weiter, bis die anderen sie mit Schlägen zum Schweigen gebracht hatten.
»Wir gehen jetzt!«, sagte Indrani. Stolperzunge ließ sich von ihr bis zur nächsten Straße mitzerren, immer noch mit dem kleinen Mädchen im Schlepptau, während Steingesicht neben ihnen herhumpelte.
»Was sind das für Leute?«, fragte er sie. »Das ist doch Wahnsinn!«
»Sie gehören zu einer Gruppe, die sehr viel zu den Geistern betet. Ich werde dir mehr darüber erzählen, wenn wir Rast machen.«
Sie suchten sich ein Gebäude aus und hockten sich in den Schatten eines Eingangs. Ein Vorhang aus Moos hielt das grelle Licht ab und war immer noch feucht und kühl von den Resten des in der vergangenen Nacht gefallenen Dachschweißes. Das Summen und Schwirren der Mooswesen um sie herum dämpfte die Geräusche der Menschen vom Platz. Stolperzunge gab dem kleinen Mädchen Wasser zu trinken, dann rollte es sich zusammen und war im nächsten Moment eingeschlafen. Steingesicht setzte sich neben die Kleine und legte ihr vorsichtig eine Hand auf den Rücken. Er atmete schwer, erschöpft von seinen Verletzungen und dem kurzen Marsch hierher.
»Was waren das für Leute?«, fragte Stolperzunge erneut.
Indrani antwortete nicht gleich. Sie wirkte schockiert und verängstigt, als wären ihre schlimmsten Alpträume wahr geworden. »Dort, woher ich komme, gibt es viele, die wie sie denken, Stolperzunge. Es sind Menschen, die behaupten, die Geister mehr als sich selbst zu lieben. Einige dieser Idioten meinen es sogar ernst, vermute ich. Wir haben dafür ein bestimmtes Wort: Sie sind religiös .« Sie betonte es ähnlich wie das Wort »Wilder«, als würde es ihr Schmerzen bereiten, es auszusprechen. »Einige von ihnen gehörten zu denen, die oben im Dach rebelliert haben – das war zu dem Zeitpunkt, als ihr die ersten Kämpfe zwischen den Sphären beobachtet habt. Aber diese Leute gehören zu einer Gruppe, die nicht kämpfen will – zumindest behaupten sie das. In ihren Legenden heißt es, wenn sie das
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