Bone 01 - Die Kuppel
deine Abenteuer aufmerksam verfolgt, Stolperzunge! Manchmal war ich geradezu süchtig danach! Aber bevor ich hierherkam, war ich Lehrer, und eine Sache, die ich gelernt habe, ist die, dass selbst deine fleischfressenden Vorfahren es als Mord betrachtet hätten, ein Wesen zu töten, das ebenfalls denken kann!«
Stolperzunge reichte dem Mann einen scharfen Stein. Er verspürte das plötzliche Bedürfnis, Varaha nach der Geschichte seiner Vorfahren zu fragen, trotz des Versprechens, das er Indrani gegeben hatte. Es konnte doch nicht schaden, oder? Aber er hielt den Mund, bis sich der Lehrer über eine Leiche beugte und begann, sie zu zerlegen.
In der Zwischenzeit hatte Indranis Gruppe endlich gelernt, die Steine zu erkennen, mit denen man Funken schlagen konnte. Sie zeigte ihnen, wie man den Saft aus dem Moos klopfte, um Zunder zu bekommen, und knurrte verärgert über ihre Unbeholfenheit, die sie selbst vor nicht allzu langer Zeit an den Tag gelegt hatte. Alle waren völlig erschöpft, ihre strahlend bunte Kleidung von den Knien abwärts schmutzig. Überraschenderweise hatten selbst die zimperlichsten unter ihnen keine Bedenken, Leichenstücke ins Feuer zu legen.
»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Indrani zu Stolperzunge. »Einige dieser Dummköpfe versuchen das Fleisch zu verbrennen, statt es zu braten.« Diese Vorstellung kam ihm wie völliger Wahnsinn vor, aber im Verlauf der Nacht bemerkten sie mehrere Male Leichen, die so stark verkohlt waren, dass sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Einige Leute versuchten sogar, sich mit der Asche zum Fluss zu schleichen, aber ihre qualvollen Schreie, die ein Zehntel später zu hören waren, hielten die anderen davon ab, das Gleiche zu tun.
Schließlich hatten sie trotz aller Schwierigkeiten genug Nahrung zubereitet, um sie alle für mehrere Zehntage am Leben zu erhalten. Der letzte Kampf bestand darin, sie zu überreden, das Fleisch zu essen. Aber es war gar nicht so schwer, wie Stolperzunge befürchtet hatte. Diese Menschen waren hier, weil ihnen ihr Überleben wichtiger als ihr Glaube war. Als schließlich die – für Stolperzunge – köstlichen Düfte des gegrillten Fleisches durch den Raum zogen, bedienten sich fast alle, auch wenn sie nur wenige Bissen zu sich nahmen.
Würgende Geräusche waren noch bis spät in die Nacht zu hören.
Seltsamerweise konnte er nicht schlafen. Eigentlich hätte er völlig erschöpft sein müssen – und war es auch! Seine zahlreichen Wunden schmerzten, und jeder Muskel zitterte. Aber er war viel zu glücklich, um Schlaf zu finden. Er hatte eine neue Heimat gefunden. Die Menschen, die in seiner Nähe lagen, die ungeschickten Wachen, die er benannt hatte, sie alle waren jetzt sein Stamm. Die Lage war hoffnungslos, und wahrscheinlich waren sie alle längst zum Tod verurteilt, aber nun hatten sie viel größere Überlebenschancen als seine kleine Gruppe während des Versuchs, zum Dach zu gelangen. Anfangs hatte er sich Sorgen gemacht, weil so viele Hass auf Indrani empfanden. Aber genauso, wie sie ihre Furcht vor Fleisch überwunden hatten, würden sie schon bald gelernt haben, Indranis Mut und Stärke zu schätzen. Sie brauchten sie genauso sehr wie er. Nur eine Sache fehlte noch, um sein Glück vollkommen zu machen.
»Bist du wach?«, flüsterte Indrani von ihrem Moosbett neben seinem.
Er lächelte. Würde es jetzt geschehen? Er stellte sich vor, wie er ihre wunderschönen Lippen küsste. Wenn es einen Ort gab, wo es geschehen sollte, dann hier im Schoß ihres neuen Stammes. Er hatte oft überlegt, dass sie vielleicht nie wieder etwas mit Männern zu tun haben wollte. Aber je weiter sie sich von Wandbrecher entfernten, desto weniger Angst hatte sie vor ihm und desto näher kamen sie sich.
»Ich bin wach«, sagte er. Er streckte ihr seine Hand entgegen und wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Er hatte ein flatterndes Gefühl im Bauch, als sich ihre warmen Finger mit seinen verschränkten.
»Ich bin so froh«, sagte sie. Er glaubte zu wissen, was sie meinte. Eine ganze Weile lagen sie so da. Er hatte so lange auf diesen Augenblick gewartet, auf eine Gelegenheit, ihr zu sagen, was er für sie empfand. Er spürte, wie er wegdriftete, und zwang sich, unbedingt wach zu bleiben. Jetzt oder nie!
»Indrani?«
»Hmmh …?«
»Schlaf noch nicht ein, Indrani.«
»Mmmh …«
»Ich … ich will dich.« Jetzt war sie wach. Er spürte, wie sich ihre Hand von seiner zurückzog und wie sein Gesicht brannte. »Ich meine, ich will, dass du
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