Bone 01 - Die Kuppel
Stolperzunge, ganz und gar nicht. Das ist nicht der Grund, warum schon drei ihrer schwächlichen alten Männer versucht haben, mich zu töten.«
Stolperzunge fiel der Unterkiefer herunter. »Ich wusste nicht …«
»Du musst mich nicht vor solchen Leuten schützen!«
»Natürlich nicht!« Er ballte die Hände zu Fäusten und überlegte, wer sie angegriffen haben könnte. Er hätte es nicht ertragen, sie jetzt zu verlieren, nachdem sie eine neue Heimat gefunden hatten. »Aber was in aller Welt hast du ihnen angetan?«
Ihr Blick schien in weite Ferne zu reichen. »Im Dach habe ich versucht, nur das Beste für sie zu tun, Stolperzunge. Ich habe immer daran gedacht, wie schrecklich es für sie sein muss, in der Vorstellungswelt verbitterter alter Männer gefangen zu sein, während sie jederzeit all die Wunder der Zivilisation hätten genießen können. Also sorgte ich dafür, dass ihre Kinder auf richtige Schulen gingen, wo sie lernten, den Wahnsinn ihrer Glaubensvorstellungen zu begreifen. Ich habe sie zu medizinischen Untersuchungen gezwungen und für die Befreiung ihrer Frauen gekämpft.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben mir dafür mit Hass gedankt, Stolperzunge, und obwohl sie ganz genau wissen, dass es Unsinn ist, machen sie mich dafür verantwortlich, dass sie hier unter dem Großen Dach leben müssen. Mich! Dabei war ich immer diejenige gewesen, die sich dagegen ausgesprochen hat, wenn das vorgeschlagen wurde. Aber vielleicht hätte ich lieber den Mund halten sollen.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Vielleicht wäre ich gar nicht hier, wenn ich nichts gesagt hätte.«
In Stolperzunges Kopf wirbelten seltsame Gedanken, manche furchteinflößend, andere einfach nur schmerzhaft.
»Warum … warum bist du hier, Indrani?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das frage ich mich selbst immer wieder. Jeden Tag. Und jedes Mal komme ich auf eine andere Antwort. Jede …« Sie legte die Hände auf die Augen und entfernte sich taumelnd von ihm. Sie wollte nicht vor den anderen Menschen weinen, vermutete er, aber viele hatten es trotzdem gesehen, und einige hatten mit offener Verachtung darauf reagiert.
»Was starrt ihr so?«, brüllte er sie an.
Vorläufig gab es genug andere Probleme, um die er sich kümmern musste. Niemand schien mit den einfachsten Aufgaben vertraut zu sein, und alle sahen ihn an, als würden sie von ihm Befehle wie von einem Häuptling erwarten.
Es lag nur daran, dass Steingesicht verletzt war. Andernfalls würden sie hilfesuchend zum großen Jäger aufschauen.
Ein paar der Leute, die Fleisch aus der Gasse holen sollten, gingen unterwegs verloren und tauchten nicht wieder auf. Der kahlköpfige Häuptling, der zu schwach zum Stehen war und sich auf einem Haufen zersprungener Steinblöcke niedergelassen hatte, predigte ständig zu seinen Untergebenen. Und niemand wollte die Kadaver schlachten, die sie unter großen Verlusten erbeutet hatten. Die meisten ekelten sich sogar davor, sie nur zu berühren. Stolperzunge sammelte seine Jäger für diese Aufgabe, als sie aus der Gasse zurückkehrten.
»Ach, lass mich machen!«, sagte Yama. Auf seinem Gesicht stand ein komisches Lächeln – nur sein linker Mundwinkel war hochgezogen, vielleicht weil die Narben auf der anderen Seite die Gesichtsmuskeln unbeweglich gemacht hatten. »Aber ich möchte gerne mit der Leiche meiner Stiefmutter anfangen.« Mehrere Männer lachten laut, bis der Junge sie mit einem strengen Blick zum Schweigen brachte. Sie glaubten, er hätte einen Witz gemacht. Doch er nahm sich ein Messer und marschierte pfeifend los, um die Leiche der Frau zu suchen.
Ein anderer williger Helfer war der gut aussehende Varaha, der Stolperzunge in der Gasse das Leben gerettet hatte. Er wirkte völlig entspannt, nicht im Geringsten müde oder auch nur hungrig. Er trug eine kunstvoll gearbeitete Halskette aus Holz, doch die übrige Kleidung dieser Leute hatte er fast vollständig abgelegt, bis auf einen Lendenschurz, den er sich selbst gemacht hatte. »Wenn wir schon einmal bei diesem Mordspiel sind«, sagte er, »können wir es genauso gut bis zum Ende durchziehen.« Alle Frauen blickten in seine Richtung, und Stolperzunge fragte sich, was Indrani über ihn dachte.
»Es ist kein Mord, Varaha. Wir haben nur Bestien getötet!«
Der Mann zuckte mit den Schultern, während er strahlend lächelte. »Klar. Aber… mein ganzes Leben lang habe ich daran geglaubt, es sei Mord, wenn man ein anderes Lebewesen tötet, um es zu essen. Ich habe
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