Bone 01 - Die Kuppel
drohte. Aber er wollte nicht, dass irgendwer ihn sah, wenn das geschah.
WER WIRD SICH UM SIE KÜMMERN?
Die Waisenkinder hätten eigentlich schlafen sollen, nachdem es bereits dunkel geworden war. Stolperzunge lauschte den Echos ihres Geflüsters und Gekichers, als sie mit dem kleinen Vierbeiner herumtollten. Er hatte gehört, dass das Wesen ein paar menschliche Worte verstand, sie aber nicht wiedergeben konnte. Erneut fragte er sich, ob es klug gewesen war, es am Leben zu lassen. Wie sollten solche Kinder irgendwann Vierbeiner jagen? Wie sollte er sie jagen? Es hatte ihm nie Alpträume bereitet, Bestien zu töten, aber in letzter Zeit … Er wusste nicht, ob seine Frau oder der Sprecher schuld an dieser Veränderung war, aber er war sich nicht sicher, ob er ohne beides überleben konnte.
»Lass die Kinder«, sagte er zu Indrani. »Leg dich zu mir.«
»Ich weiß nicht, wer sich um sie kümmern wird.« Sie hielt sich die Hände vor den Bauch, eine Geste, die er schon einige Male gesehen hatte, mit der er aber nichts anfangen konnte.
»Du wirst dich um sie kümmern«, sagte er.
Sie biss sich auf die Unterlippe und kam zum Bett aus gestampftem Moos, das sie miteinander teilten. Wie üblich in diesen Tagen legte sie sich weit genug von ihm entfernt hin, sodass er sie nicht in die Arme schließen konnte.
»Es ist schon sehr lange her, Indrani – zwei Zehntage«, sagte Stolperzunge. »Mindestens zwei. Warum kommst du nicht näher? Seit dem Kampf auf dem Dach ist es, als wärst du …« Als wärst du gestorben. Er hatte es schon einmal gesagt und wollte es nicht mehr wiederholen.
Nicht allzu weit entfernt, durch einen der vielen Durchgänge im Erdgeschoss des Hauptquartiers, war zu hören, wie eine Frau sang. Vielleicht war es etwas Liebevolles, aber es wurde durch Echos verzerrt und immer wieder durch das Klatschen kleiner Füße und die nutzlosen Ermahnungen einer erwachsenen Stimme unterbrochen.
Dann war alles wieder ruhig. Stolperzunge und Indrani waren allein, bis auf den Umriss einer Bestie, den jemand mit Kohle an die Wand gezeichnet hatte – ein Wesen mit langer Nase, angeblich ein Gott. Das Bild flackerte im Schein des niederbrennenden Feuers, und sein großer Mund grinste über das Unbehagen des Häuptlings.
»Was habe ich dir angetan?«, wollte Stolperzunge von Indrani wissen.
In Wirklichkeit wollte er sie nach Varaha fragen. Sie schien den Mann zu Anfang nicht gemocht zu haben, aber nun verbrachte sie immer mehr Zeit mit ihm.
»Nicht du hast mir etwas angetan«, sagte sie. Dann wandte sie sich ab, damit er nicht den üblichen schuldbewussten Ausdruck sah, den sie jedes Mal hatte, wenn er etwas von ihr wissen wollte.
Stolperzunge seufzte und musterte den Kreis aus Jägern. Acht Männer und zwei Frauen lauschten jedem seiner Worte und sahen ihn an, als wäre er einer ihrer Götter. Manchmal hätte er sie am liebsten angeschrien: »Das bin ich nicht!« Aber Indrani war nicht die Einzige, die sich seit dem Kampf seltsam verhielt. Auch Stolperzunge war nicht mehr so wie früher, nicht mehr der stotternde Junge, der geringere Bruder. Die Jäger gehorchten ihm ohne Widerspruch, aber sie hatten viel zu viel Achtung vor ihm, um seine Freunde sein zu können.
»Heute Nacht brauchen wir drei Leichen.« Er nahm sich die Zeit, jedem Jäger in die Augen zu blicken. »Wenn es menschliche Leichen sind, auch gut. Aber glaubt nicht, dass drei auch nur für eine einzige Mahlzeit des Stammes genügen würden! Ich werde morgen Nacht mit einer weiteren Gruppe losziehen, und wieder in der darauffolgenden Nacht. Nach vier Nächten werdet ihr erneut an der Reihe sein.«
Der Häuptling hoffte, dass es ausreichte. Es waren die besten Jäger, die ihm geblieben waren. Sodasi und Kamala mit den Steinschleudern; Sanjay, der Stolperzunge beim Wettrennen überholte und eine unheimliche Treffsicherheit mit dem krummen Speer entwickelte, den er für sich selbst angefertigt hatte; Vishwakarma, der nach den Maßstäben dieser Leute ein brutaler Kerl war, der jeden Schmerz missachtete, um geschickte Gegner zu besiegen; Kubar, der ehemalige Priester, der älteste Mann in der Gruppe, der aber klug genug war, um in einem Kampf am Leben zu bleiben… und schließlich Varaha. Er trug immer noch die kleine Holzkette um den Hals und dasselbe wissende Lächeln auf dem Gesicht. Jetzt drehte sich Stolperzunge der Magen um, wenn er es sah. Nur Varaha hatte keinerlei Angst vor dem Häuptling; offenbar hatte er vor gar nichts Angst, soweit
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