Bone 01 - Die Kuppel
blickte starr zum Horizont. Eigentlich sollte er sie beglückwünschen. Er hoffte, dass sie glaubte, sein Stottern würde ihn daran hindern, aber sie kannte ihn viel zu gut. Sie senkte den Kopf, und einen Augenblick lang herrschte Schweigen zwischen ihnen, während sie beide über die Stadt blickten. Überall machte sich Menschen-Wege für die Nacht bereit. Gebäude kühlten ab, und die Wände knarrten hörbar wie das Ächzen eines verwundeten Jägers, der sich zum Ausruhen niederließ. Kochfeuer warfen tanzende Schatten über die vier Hauptstraßen, die sich am Mittelplatz trafen, während köstliche Düfte durch Fenster und Türöffnungen drangen, um nach Nasen zu suchen. Stolperzunges Bauch knurrte. Trotzdem verspürte er keinen Hunger.
»Du bist ihm so ähnlich«, sagte Moosherz schließlich. »Nur dass er natürlich mehr spricht. Ständig quasselt er über dies oder das. Wenn er jetzt hier wäre … Du weißt, dass er nicht damit aufhören kann. Er würde über die Lichter am Großen Dach oder sogar über dieses Haus sprechen. ›Wer hat diese Stadt für uns gemacht?‹, würde er fragen. ›Wie ist es dazu gekommen, dass wir hier leben? ‹.«
Unwillkürlich musste Stolperzunge lächeln. Sein Bruder hatte diese Fragen schon viele Male gestellt und die abenteuerlichsten Erklärungsversuche erfunden. Das war einer der Gründe, warum er Wandbrecher so innig liebte. Deshalb brauchte der Stamm ihn.
Moosherz zerrte an ihrem hübschen Haar, das sie als verheiratete Frau jetzt zurückgebunden hatte.
»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten«, sagte sie. »Mein Mann… ich weiß nicht, ob er immer so ist. Vielleicht kannst du es mir erklären … Er schläft nicht sehr viel. Geht immer auf und ab. Und wenn er doch einschläft, wacht er irgendwann schweißgebadet wieder auf und starrt mich an, als… als würde er mich gar nicht kennen.«
Sie begann zu weinen. Stolperzunge legte einen Arm um sie, aber sie schüttelte ihn ab, wie es auch jede andere verheiratete Frau getan hätte. Und dann, als die Flieger ihre Streitereien beendet hatten und sich in die Lüfte erhoben, erzählte sie ihm von der schrecklichen Sache.
»Er hat nicht mehr… seit unserer Hochzeit hat Wandbrecher nicht mehr gejagt.«
Stolperzunge hatte so etwas vermutet, aber dass Moosherz seine Befürchtung in Worte fasste, erschütterte ihn zutiefst. Er rechnete nach. Zwanzig Tage. Ständig mussten Jagdgruppen losziehen, damit die Leute zu essen hatten. Ob tätowiert oder nicht, wenn Wandbrecher es noch länger hinausschob, würde man ihn als Freiwilligen für die nächste Bestienabordnung auswählen, die Fleisch einhandeln wollte. Sein Kind – Moosherz’ Kind – würde als Waise aufwachsen und vielleicht sogar genauso enden wie sein Vater. Falls Moosherz nicht wieder heiratete, verstand sich. Einen Moment lang gab sich Stolperzunge dieser reizvollen Vorstellung hin. Doch dann riss er sich davon los, indem er mit der Faust gegen die Brüstung schlug. Dann wäre Wandbrecher tot. Das könnte Stolperzunge trotz seines Verrats nicht ertragen. Er wusste, dass Wandbrecher es nicht getan hatte, um ihn zu verletzen. Sein ganzes Leben lang hatte sein Bruder ihn vor den Rüpeln beschützt, die ihn wegen seiner Sprechweise verspottet hatten. Er hatte Stolperzunge auf seiner ersten Jagd das Leben gerettet, und als ihr Vater sich freiwillig gemeldet hatte, um Nahrung für die Krallenleute zu werden, war es Wandbrecher gewesen, der ihm erklärt hatte, warum es eine große Ehre für die Familie war, bevor er selbst in Tränen ausgebrochen war.
»Ich w-werde ihn mit auf die J-jagd nehmen«, sagte Stolperzunge.
Endlich lächelte Moosherz und wischte sich die Tränen ab. »Ich danke dir, lieber Stolperzunge. Ich weiß, dass du ihn nicht in das Gebiet der Haarigen mitnehmen kannst, seit dort seltsame Dinge geschehen. Aber eine Jagdgruppe will sich übermorgen auf den Weg ins Revier der Krallenleute machen. Die Männer wären stolz darauf, zwei Helden in ihrer Begleitung zu haben.«
Stolperzunge errötete.
»Und es wird dir nicht schaden, wenn du selber damit anfängst, deinen eigenen Brautpreis zusammenzusparen.«
Er biss sich auf die Lippe.
»Nein, hör zu, Stolperzunge. Du kannst nicht für immer ein Junge bleiben. Ich hatte eine Freundin, als ich noch unverheiratet war. Hellzahn. Du kennst sie, nicht wahr?«
Stolperzunge kannte sie, aber sie war nicht Moosherz. Er schüttelte den Kopf und führte seine Schwägerin entschlossen zur Treppe. Bevor sie ging,
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