Bookman - Das ewige Empire 1
hatte eine
vorspringende Stirn mit zurückweichendem Haaransatz. Die Nase ragte scharf aus
dem Gesicht und hatte etwas RespekteinflöÃendes. Seine tief liegenden Augen
schienen bis in Orphans Seele zu dringen. Das war ein Mann, dem nichts entging,
der alles wusste. Fast sah er, fand Orphan, wie eine von Babbages
Rechenmaschinen aus.
Trotzdem war er unverkennbar ein Mensch. Er hatte kräftige
Wurstfinger, und als er das Glas zum Mund hob, schlug sich sein Atem darauf
nieder. Die Wangen röteten sich, und es hatte etwas Sinnliches, wie er die
Augen schloss, um den Geschmack des Drinks auszukosten. Offenbar war er ein
Mann, der Essen und Trinken zu genieÃen verstand.
Schweigend saÃen sie einander gegenüber. Der Raum, in dem sie sich
befanden, war diskret beleuchtet und erinnerte mit seinen Mahagonimöbeln sowie
den dunklen Samtbezügen an einen Clubraum. Neben ihren Sesseln standen kleine
Tischchen, hinter dem fetten Mann war eine Hausbar zu sehen. Zwei kleine
elektrische Lampen brannten, deren Licht von dunklen Schirmen gedämpft wurde.
Der fette Mann schnippte mit den Fingern, worauf ein schwarz
gekleideter Butler heranglitt und Orphan einen Drink reichte. Als er kostete,
stellte er fest, dass es sich um Whisky handelte, eine wesentlich bessere Sorte
als die von Jack favorisierte. Er drehte den Kopf, was einen ziehenden Schmerz
in seiner Beule hervorrief. Zu seiner Rechten befand sich ein Fenster. Er sah
hinaus â und erblickte die sich unter ihm ausbreitende Stadt.
Von hier oben wirkte die Themse wie eine silberne Schlange, deren
Windungen eine unentzifferbare Hieroglyphe bildeten. In der unter ihm atmenden
Stadt leuchteten Lichter auf, während andere Lichter erloschen. Diese Lichter
schienen eine Botschaft auszusenden, eine verborgene Wahrheit mitzuteilen, die
er, wenn er sich nur stark genug konzentrierte, würde entschlüsseln können. Das
Parlamentsgebäude war ein riesiges, durchfurchtes Gesicht, das ihm Geheimnisse
zuflüsterte, die er nicht zu ergründen vermochte. Langsam drehte das Luftschiff
ab, sodass er die Nordostseite des Flusses in den Blick bekam sowie die Kuppel
von St. Paulâs, die wie der kahle Kopf eines intriganten Mönchs aussah. Er
trank einen weiteren Schluck Whisky, was seine Kopfschmerzen linderte, und
wandte sich vom Fenster ab. »Wer sind Sie?«, fragte er.
Der fette Mann nickte anerkennend. »Sie kommen direkt zum Kern der
Sache. Das ist gut.« Trotzdem schien er es nicht eilig zu haben, die Frage zu
beantworten. Er nippte an seinem Drink (der Butler hatte sich längst
zurückgezogen, lautlos und effizient wie ein Roboter) und musterte Orphan mit
seinen hellen, durchdringenden Augen. »Vielleicht«, sagte er schlieÃlich, »ist
die Frage, wer ich bin, gar nicht so bedeutsam, wie
Sie anzunehmen scheinen. Mich persönlich bewegt vielmehr die wesentlich
interessantere Frage, wer Sie sind, mein junger
Freund.«
Das wissen Sie doch sicher schon, Sie widerlicher alter Dreckskerl,
dachte Orphan. Er war müde, seine Augen schmerzten, zudem hatte er einen
Aschegeschmack im Mund. Alles, was er wollte, war ein Bett zum Schlafen und
Ruhe.
»Nun?«
»Mein Name ist Orphan.«
Der fette Mann dachte einen Moment nach. »Das ist kein richtiger
Name«, meinte er schlieÃlich.
»Das ist der Name, der mir gegeben wurde.«
Der fette Mann beugte sich vor. »Ah, aber von wem?«, fragte er.
»Orphan ist ein Beiname, ein Spitzname, ein Alias â eine Bezeichnung, die
angibt, was Sie sind, nämlich ein Waisenkind. Also, wie hieÃen Sie, bevor Sie
zur Waise wurden?«
»Wer sind Sie?«, wiederholte Orphan. Die Frage des fetten Mannes
hatte ihn wie ein Schlag ins Gesicht getroffen.
»Ich heiÃe Mycroft«, erwiderte der fette Mann. »Und Sie?«
»Orphan.«
»Nein.«
Das Schweigen, das daraufhin einsetzte, war ebenso aufgeladen wie
die Luft vor einem Unwetter.
»Na schön«, ergriff der fette Mann namens Mycroft nach einer Weile
das Wort. »Interessant«, fügte er hinzu.
»Was ist interessant?«
»Dass Sie Ihren Namen nicht kennen.«
Behutsam stellte Orphan sein Glas auf den Tisch. Andernfalls hätte
die Gefahr bestanden, dass er es Mycroft an den Kopf warf. »Kennen Sie ihn denn?«, fragte er.
Mycroft schüttelte den Kopf. »Nein. Und das ist, wie ich finde, noch
interessanter, weil ich nämlich sehr viele Dinge weiÃ.«
»Sie
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