Boomerang
gescheut, um ihre Geschichte wiederauferstehen zu lassen. Während ich mich von einer blutrünstigen Szene zur nächsten bewege, schaue ich unwillkürlich ab und zu über die Schulter, um zu sehen, ob hinter mir kein Wikinger mit Streitaxt steht.
Genau so lieben die Isländer offenbar ihre Vergangenheit: als Geschichte der Schlachten und des Heldenmuts. Sie wollen sehen, wer wen umhauen oder umrempeln kann. Natürlich gab es irgendwo auch ein paar Frauen, aber es ist vor allem eine Geschichte der Männer.
Wer sich viel Geld leiht, um einen falschen Wohlstand zu schaffen, der holt sich ein Stück von der Zukunft in die Gegenwart. Nicht die wirkliche Zukunft, sondern ein groteskes Wachsfigurenpanorama. Mit geliehenem Geld kauft man sich eine Ahnung des Wohlstands, den man sich nicht verdient hat. Die Zukunft, wie sie sich die isländischen Männer für kurze Zeit auf ihre Insel holten, hat auffällige Ähnlichkeit mit der Vergangenheit, die sie feiern. Ich möchte wetten, nachdem sie einen Blick in diese falsche Zukunft geworfen haben, werden die isländischen Frauen in der realen Zukunft deutlich mehr mitzureden haben.
|62| Dabei haben sie die Mathematik erfunden!
N ach einer Stunde im Flugzeug, zwei weiteren im Taxi, drei auf einer wenig vertrauenerweckenden Fähre und noch einmal vier in verschiedenen Bussen, die von griechischen Fahrern, die pausenlos in ihre Handys sprachen, halsbrecherisch an tiefen Abgründen entlanggesteuert wurden, gelangte ich endlich am Tor des weitläufigen, weltabgeschiedenen Klosters an. Die in die Ägäis hineinragende Landzunge kam mir vor wie das Ende der Welt. Die Stille unterstrich diesen Eindruck noch. Es war später Nachmittag, und die Mönche beteten entweder oder hielten Mittagsruhe. Einer versah jedoch seinen Dienst an der Pforte, um Besucher in Empfang zu nehmen. Zusammen mit sieben griechischen Pilgern wurde ich in einen historischen, sorgfältig restaurierten Schlafsaal geführt, wo zwei etwas entgegenkommendere Mönche Ouzo, Gebäck und Zellenschlüssel austeilten. Aber irgendetwas stand doch noch aus? Ach ja – niemand hatte nach einer Kreditkarte gefragt. Das Kloster war nämlich nicht nur gut organisiert, sondern auch noch kostenfrei. Einer der Mönche wies darauf hin, als nächster Punkt stehe auf der Tagesordnung ein Gottesdienst: die Vesper. Wie sich herausstellen sollte, war der nächste Tagesordnungspunkt fast immer ein Gottesdienst. Es gab innerhalb der Klostermauern 37 Kapellen; |63| die richtige zu finden könnte schwierig werden, befürchtete ich.
»In welcher Kirche?«, fragte ich den Mönch.
»Gehen Sie einfach den Brüdern nach, wenn sie sich erheben«, empfahl er mir und musterte mich kritisch. Er trug einen endlos lang scheinenden, wild wuchernden schwarzen Bart, eine lange schwarze Kutte, ein Mönchskäppi und eine Gebetsschnur, ich dagegen weiße Sportschuhe, eine leichte Baumwollhose, ein violettes Hemd von Brooks Brothers und einen Wäschesack aus Plastik, auf dem seitlich mit großen Lettern die Aufschrift EAGLES PALACE HOTEL prangte. »Warum sind Sie hergekommen?«, wollte er wissen.
Eine gute Frage. Nicht wegen der Kirche. Mir ging’s ums Geld. Der Tsunami billiger Kredite, der von 2002 bis 2007 über die Erde geschwappt war, hatte ganz neue Reiseziele hervorgebracht – Finanzkrisentourismus sozusagen. Kredite brachten nicht nur Geld, sondern stellten eine Versuchung dar. Komplette Gesellschaften hatten plötzlich die Möglichkeit, Charakterzüge auszuleben, die sie sich sonst nicht leisten konnten. Es war, als hätte man ganzen Ländern gesagt: »Das Licht ist ausgeschaltet. Macht, was ihr wollt – keiner wird’s erfahren.« Und was sie da im Verborgenen mit dem Geld vorhatten, variierte erheblich. Die Amerikaner wollten größere Häuser, die ihre Mittel weit überstiegen. Und die Starken sollten die Schwachen besser ausnutzen können. Die Isländer hatten keine Lust mehr, Fische zu fangen, und wollten lieber Investmentbanker sein. Ihre Alphamännchen sollten die Chance erhalten, ihrem bis dato unterdrückten Größenwahn zu frönen. Die Deutschen wollten noch deutscher werden, die Iren nicht länger irisch sein. All diese verschiedenen Gesellschaften wurden mit demselben Umstand konfrontiert und reagierten |64| jeweils auf ihre ganz eigene Weise darauf – aber niemand so eigenartig wie die Griechen. Das konnte jeder erkennen, der auch nur ein paar Tage lang mit den Verantwortlichen vor Ort gesprochen hatte. Doch wer genau wissen
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