Boomerang
billiger Energie frei, die sich jedoch anders als das Erdöl nicht exportieren lässt. Die Energie ist auf Island gefesselt, und so poetisch das klingen mag, haben die Isländer eine sehr viel weniger poetische Möglichkeit gefunden, sie zu nutzen. Sie fragten sich: Welche Dienstleistung können wir anbieten, die erstens gut bezahlt wird und zweitens große Mengen Energie erfordert? Und ihre Antwort lautete: Wir könnten doch Aluminium schmelzen!
Sie stellten sich also nicht die Frage, was Isländer tun wollten oder wozu sie vielleicht besonders qualifiziert waren. Niemand dachte, dass die Isländer ein besonderes Talent zur Aluminiumherstellung hatten, und in der Tat erwiesen sie sich eher als ungeeignet. Als Alcoa, der größte Aluminiumfabrikant des Landes, im Jahr 2004 seine erste riesige Anlage errichtete, traf es auf zwei landestypische Probleme. Das erste war das sogenannte unsichtbare Volk, genauer gesagt die Elfen, an deren Existenz viele der gründlich in Folklore getränkten Isländer glauben. Ehe Alcoa seine Anlage errichten konnte, musste ein staatlich geprüfter Gutachter klären, |54| ob sich auf oder unter dem geplanten Standort Elfen befanden. Alcoa steckte in einer etwas kniffligen Lage, wie mir ein Unternehmenssprecher gestand, denn einerseits musste es einen Gutachter bezahlen, der das Gelände als elfenfrei deklarierte, andererseits konnte es »nicht gut die Existenz des kleinen Volkes anerkennen«. Ein größeres Problem stellte jedoch der Isländer an sich dar, oder richtiger: der isländische Mann, der etwas risikofreudiger war als Aluminiumschmelzer anderer Nationen. »Wir sind in der Fabrikation darauf angewiesen, dass sich die Arbeiter an Regeln und Anweisungen halten«, meinte der Alcoa-Sprecher. »Wir brauchen keine Helden. Wir brauchen niemanden, der Dinge reparieren will, die ihn nichts angehen, weil er sonst vielleicht den ganzen Laden in die Luft sprengt.« Leider haben die isländischen Männer den unseligen Hang, Dinge reparieren zu wollen, die sie nichts angehen.
Bei einem nüchternen Blick auf die isländische Wirtschaft kommt man nicht umhin, eine sonderbare Verschiebung zu erkennen: Die Isländer sind inzwischen so hoch qualifiziert, dass sie für die Arbeit, die ihnen auf der Insel geboten wird, nicht mehr taugen. Diesen bestens ausgebildeten Menschen, von denen sich jeder für etwas Besonderes hält, stehen letztlich nur zwei reichlich unangenehme Branchen offen: der Fischfang und die Aluminiumherstellung. Natürlich gibt es auf der Insel auch eine Handvoll von Aufgaben für hoch qualifizierte Menschen, zum Beispiel die Erstellung von Elfengutachten. (»Das nimmt mindestens sechs Monate in Anspruch. Es ist eine extrem knifflige Tätigkeit.«) Aber es sind nicht annähernd so viele, wie ein Land benötigt, das aus Schellfisch Doktortitel macht. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts warteten viele Isländer nur darauf, dass sich ihnen in ihrer Wirtschaft |55| Aufgaben stellten, die ihren Qualifikationen entsprachen. Da kam das Investmentbanking wie gerufen.
***
Wie immer, wenn ich mit isländischen Männern und Frauen an einem Tisch sitze, bemerke ich eine merkwürdige Spannung. Die Männer zeigen die weltweit verbreitete Tendenz, nur mit den Frauen zu sprechen, wenn sie eindeutige Absichten haben. Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Mit isländischen Männern und Frauen an einem Tisch zu sitzen ist so, als würde man Kindern beim Spielen zusehen: Sie spielen nicht miteinander, sondern nebeneinander. Sie harmonieren sogar noch schlechter als Männer und Frauen in anderen entwickelten Ländern der Welt, und das will etwas heißen. Auf dem Papier haben es die Frauen in Island genauso gut, wenn nicht besser, als Frauen in aller Welt: Sie genießen eine ausgezeichnete medizinische Versorgung, sind in gleichem Maße berufstätig wie die Männer und vor dem Gesetz vollkommen gleichberechtigt. Was die Frauen nicht haben – so zumindest der Eindruck eines Touristen, der sie ganze zehn Tage lang beobachten durfte –, ist eine echte Beziehung zu isländischen Männern. Die Mitglieder der Unabhängigkeitspartei sind überwiegend Männer, die der Sozialdemokratischen Partei überwiegend Frauen. (Als Premierminister Geir Haarde Ende Januar 2009 zurücktrat, wurde die Sozialdemokratin Jóhanna Sigurðardóttir zu seiner Nachfolgerin gewählt. Sie war nicht nur die erste Frau an der Spitze der isländischen Regierung, sondern die erste bekennende homosexuelle Regierungschefin der Welt:
Weitere Kostenlose Bücher