Boomerang
auf. Alle taten so, als existiere sie nicht, während die Regierung sie brav erfüllte. Das Loch in der Rentenkasse für Selbstständige betrug nicht 300 Millionen, wie angenommen, sondern 1,1 Milliarden Euro. Und so ging es weiter. »An jedem Abend sagte ich: ›Gut, Leute, ist das alles?‹, und bekam zur Antwort: ›Ja.‹ Am nächsten Morgen hob sich dann prompt eine Hand in den hinteren Reihen: ›Tja, eigentlich wäre da noch diese andere Lücke über 100 bis 200 Millionen Euro, Herr Minister.‹«
So ging das eine Woche lang. Unter anderem wurde eine große Zahl unverbuchter, vorgetäuschter Beschäftigungsprogramme aufgedeckt. »Das Landwirtschaftsministerium hatte einen außerbilanzielle Abteilung mit 270 Mitarbeitern eingerichtet, um die Fotos von staatlichen Liegenschaften zu digitalisieren«, berichtet mir der Finanzminister. »Das Problem war nur, dass keiner der 270 Beschäftigten Erfahrung mit digitaler Fotografie hatte. Die Leute waren in Wirklichkeit zum Beispiel Friseur von Beruf.«
Am Ende der Aufklärungsarbeit, als auch aus den letzten Reihen keine Handzeichen mehr kamen, war das ursprünglich auf rund 7 Milliarden Euro prognostizierte Defizit auf rund 30 Milliarden Euro angeschwollen. Die logische Frage – Wie ist das möglich? – ist leicht zu beantworten: Bis zu jenem Augenblick hatte sich niemand die Mühe gemacht, alles zusammenzurechnen. » |70| Wir hatten keine Haushaltsbehörde«, erklärt der Finanzminister. »Und auch keinen unabhängigen statistischen Dienst.« Die Partei, die gerade an der Regierung ist, stellt sich die Zahlen einfach so zusammen, wie es ihr passt.
Sobald Papakonstantinou die Summe vorlag, reiste er wie gewohnt zum regulären monatlichen Treffen der Finanzminister aller europäischen Länder. Als Neuling überließ man ihm das Podium. »Als ich ihnen die Zahl präsentierte, schnappten sie nach Luft«, sagte er. »
Wie konnte es dazu kommen?
Der Tenor war:
Ihr hättet doch merken müssen, dass die Zahlen nicht stimmen.
Auf dem Schildchen, hinter dem ich saß, stand schließlich nicht
NEUE GRIECHISCHE REGIERUNG
, sondern leider nur
GRIECHENLAND.«
Nach der Sitzung sprach mich der niederländische Kollege an und meinte: »Giorgos, wir wissen, dass das nicht deine Schuld ist, aber sollte dafür nicht jemand in den Knast wandern?«
Der Finanzminister beendet seine Geschichte mit dem betonten Hinweis, dass es für eine Regierung nicht so einfach sei, über ihre Ausgaben die Unwahrheit zu sagen. »Das lag nicht nur an fehlerhaften Finanzausweisen«, kommentiert er. »2009 lösten sich die Steuereinnahmen praktisch auf, weil Wahlen anstanden.«
»Wie bitte?«
Er lächelt.
»Die erste Handlung jeder Regierung in einem Wahljahr ist, die Steuereintreiber von der Straße zu holen.«
»Sie machen Witze.«
Da lacht er mich aus. Offenbar bin ich ganz schön naiv.
***
|71| Die Kosten für die Regierungsführung in Griechenland machen die eine Seite der missglückten Gleichung aus. Auf der anderen stehen die staatlichen Einnahmen. Der Herausgeber einer großen griechischen Tageszeitung hatte mir beiläufig zugeraunt, seine Reporter verfügten über Quellen bei der Finanzbehörde. Diese seien nicht aufgetan worden, um Steuerbetrug aufzudecken – in Griechenland so verbreitet, dass er keine Schlagzeile wert war –, sondern um Drogenbaronen, Menschenhändlern und anderen Schwerverbrechern auf die Spur zu kommen. Ein kleines Grüppchen von Finanzbeamten war jedoch entrüstet über die systematische Korruption in ihrem Ressort. Nachforschungen ergaben, dass zwei von ihnen bereit waren, mit mir zu sprechen. Doch aus Gründen, über die sich beide ausschwiegen, konnten sie einander nicht ausstehen. Das war, wie mir andere Griechen mehrfach versicherten, ausgesprochen griechisch.
Am Abend nach meinem Treffen mit dem Finanzminister trank ich mit dem einen Finanzbeamten in einem Hotel Kaffee. Dann ging ich die Straße hinunter und setzte mich mit dem anderen Finanzbeamten in einem anderen Hotel bei einem Bier zusammen. Beide waren bereits degradiert worden, weil sie versucht hatten, Kollegen anzuprangern, die hohe Bestechungsgelder für die Absegnung falscher Steuererklärungen angenommen hatten. Beide waren vom prestigeträchtigen Außendienst in den unpopulären Innendienst versetzt worden, wo sie keine Steuervergehen mehr mitbekamen. Beide fühlten sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Beide wollten nicht, dass irgendjemand erfuhr, dass sie mit mir gesprochen hatten. Sie hatten
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