Boomerang
nicht den wirklichen Kaufpreis angab, sondern einen falschen, der in aller Regel demselben niedrigen Betrag entsprach, den die überholte Formel veranschlagte. Wenn der Käufer einen Kredit aufnahm, um das Haus zu erwerben, belief sich dieser auf den »objektiven Wert«. Der Differenzbetrag floss bar oder über einen Schwarzmarktkredit. Infolgedessen wird der tatsächliche Wert einer Immobilie durch den »objektiven Wert« viel zu niedrig angesetzt. Erstaunlicherweise sollen sämtliche 300 griechischen Parlamentsmitglieder erklärt haben, der effektive Wert ihrer Immobilien entspreche dem vom Computer errechneten objektiven Wert. Das heißt, wie mir sowohl der Finanzbeamte als auch ein örtlicher Immobilienmakler bestätigten: »Jedes einzelne Mitglied des griechischen Parlaments lügt, um Steuern zu umgehen.«
Und er fuhr fort, mir ein System zu beschreiben, das durchaus eine gewisse Ästhetik besaß. Es ahmte die Steuersysteme hoch entwickelter Staaten nach – und beschäftigte eine große Zahl von Steuereintreibern –, war aber in Wirklichkeit darauf ausgerichtet, einer ganzen Gesellschaft die Steuerhinterziehung zu ermöglichen. Im Gehen wies er mich noch darauf hin, |75| dass uns die Kellnerin in dem schicken Touristenhotel für unseren Kaffee keinen Beleg gegeben hatte. »Und das nicht ohne Grund«, legte er nach. »Auch dieses Hotel unterschlägt die fällige Mehrwertsteuer.«
Ich ging die Straße hinunter. In der Bar eines anderen schicken Touristenhotels erwartete mich schon der zweite Finanzbeamte. Er war leger gekleidet, saß lässig vor seinem Bier und hatte dennoch größte Angst, dass andere von unserem Gespräch erfahren könnten. Er hatte einen Ordner voller Papiere dabei, die dokumentierten, wie die Griechen oder vielmehr die griechischen Unternehmen in der Praxis Geld am Finanzamt vorbeischleusten. Er begann mit einer ganzen Litanei von Beispielen (»nur solche, die ich persönlich bezeugen kann«). Das erste betraf ein Athener Bauunternehmen, das mitten in der Stadt sieben riesige Wohnblöcke errichtet und fast 1000 Wohnungen verkauft hatte. Bei ehrlicher Berechnung hätte die Körperschaftsteuer an die 15 Millionen Euro betragen. Gezahlt hatte die Firma gar nichts. Null. Um Steuern zu vermeiden, hatte sie mehrere Vorkehrungen getroffen. Erstens war nie offiziell ein Unternehmen angemeldet worden. Zweitens arbeitete der Bauunternehmer mit einer der gar nicht so seltenen Firmen zusammen, die sich nur mit der Erstellung fingierter Quittungen für nie angefallene Kosten befassen. Als unser Finanzbeamter das merkte, wurde ihm Schmiergeld angeboten. Doch er ließ die Sache nicht unter den Tisch fallen, sondern verwies sie an seine Vorgesetzten. Daraufhin wurde er von einem Privatdetektiv beschattet, seine Telefone wurden abgehört. Am Ende schaffte man die Angelegenheit aus der Welt, indem die Baufirma 2000 Euro überwies. »Danach wurde ich von sämtlichen steuerrechtlichen Ermittlungen abgezogen«, erzählte der Finanzbeamte. »Und zwar, weil ich so gut war.«
|76| Er wandte sich wieder seinem dicken Aktenordner zu und blätterte darin herum. Jede Seite enthielt eine ähnliche Geschichte wie die, die er mir gerade erzählt hatte. Und er wollte sie mir alle erzählen. Da unterbrach ich ihn. Mir war klar: Wenn ich ihn gewähren ließ, würden wir die ganze Nacht hier sitzen. Das Ausmaß der Betrügereien – die Energie, die darauf verwendet wurde – war ungeheuerlich. In Athen lernte ich als Journalist ein vollkommen neues Gefühl kennen: absolutes Desinteresse an ganz offensichtlich skandalträchtigem Material. Ich traf mich mit Leuten, die wussten, wie die griechische Regierung tickte: mit dem Topmanager einer Bank, einem Finanzbeamten, einem Stellvertreter des Finanzministers, einem ehemaligen Parlamentsmitglied. Ich zückte mein Notizbuch und hielt die Geschichten fest, die sie mir erzählten – eine himmelschreiender als die andere. Nach 20 Minuten erlosch allmählich mein Interesse. Es war einfach zu viel Stoff für ein Buch. Das Material hätte für eine ganze Bibliothek gereicht.
Der griechische Staat war nicht nur korrupt, sondern er korrumpierte andere. Hatte man erkannt, wie das ablief, wurde ein zunächst nicht nachvollziehbares Phänomen erklärlich: dass es einem Griechen so unendlich schwer fiel, ein freundliches Wort über einen Landsmann zu sagen. Als Menschen sind die Griechen wirklich nett – humorvoll, herzlich, intelligent und angenehm im Umgang. Nach zwei Dutzend
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