Boomerang
Gesprächen fand ich: »Tolle Leute.« Doch ein Grieche ist da anderer Meinung. Einen Griechen dazu zu bringen, einem anderen Griechen in Abwesenheit ein Kompliment zu zollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Erfolg erregt sofort Argwohn. Jeder ist überzeugt, dass alle anderen Steuern hinterziehen, Politiker bestechen beziehungsweise selbst Schmiergeld annehmen oder den Wert ihrer Immobilien falsch angeben. Und |77| dieses komplette Fehlen jeglichen Vertrauens in andere verstärkt sich selbst. Die Epidemie des Lügens und Betrügens und Stehlens macht jede Form von Bürgersinn unmöglich. Dessen Niedergang wiederum führt zu noch mehr Lug, Betrug und Diebstahl. Weil die Griechen einander nicht vertrauen, verlassen sie sich nur auf sich selbst und die eigene Familie.
Die Struktur der griechischen Wirtschaft ist kollektivistisch. Der Geist, der im Land herrscht, ist alles andere als das. In Wirklichkeit ist jeder auf sich allein gestellt. In dieses System hatten Investoren Hunderte Milliarden gepumpt. Die Kreditschwemme hatte Griechenland den Rest gegeben. Die Folge war der totale Zusammenbruch jeglicher Moral.
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Über das Kloster Vatopedi wusste ich im Grunde nur, dass es in einer vollkommen korrupten Gesellschaft als die Quintessenz der Korruption galt. Also reiste ich in den griechischen Norden auf der Suche nach einer Handvoll Klosterbrüder, die es mustergültig verstanden hatten, die griechische Wirtschaft vor ihren Karren zu spannen. Der erste Teil der Reise war noch recht unproblematisch: der Flug nach Thessaloniki, Griechenlands zweitgrößte Stadt, die nervenaufreibend rasante Autofahrt durch enge Straßen und die Nacht mit einer bulgarischen Reisegruppe in einem überraschend ansprechenden Hotel mitten im Nirgendwo – dem Eagles Palace. Dort drückte mir die aufmerksamste Hotelangestellte aller Zeiten (fragen Sie nach Olga) einen Stapel Bücher in die Hand und meinte sehnsuchtsvoll, was ich für ein Glück hätte, diesen Ort besuchen zu dürfen. Das Kloster Vatopedi wurde wie 19 weitere im 10. Jahrhundert auf der knapp 350 Quadratkilometer großen Halbinsel im Nordosten Griechenlands gegründet – |78| dem Berg Athos. Die Mönchsrepublik ist heute durch einen langen Zaun vom Festland abgetrennt und deshalb nur mit dem Boot zu erreichen, was der Halbinsel wahres Inselfeeling verleiht. Frauen dürfen sie übrigens nicht betreten – noch nicht einmal weibliche Tiere, mit Ausnahme von Katzen. Die offizielle Erklärung für dieses Verbot ist der Wunsch der Kirche, die Jungfrau Maria zu ehren, die inoffizielle Version bezieht sich auf das Problem, dass die Mönche mit weiblichen Besuchern in Berührung kommen könnten. Das Verbot gilt jetzt schon 1 000 Jahre.
Das erklärt das schrille Kreischen, das am nächsten Morgen ertönt, als die betagte Fähre voller Mönche und Pilger von der Mole ablegt. In Trauben stehen die Frauen am Ufer und schreien sich die Seele aus dem Leib – doch sie wirken dabei so gut gelaunt, dass unklar bleibt, ob sie beklagen oder feiern, dass sie ihre Männer nicht begleiten dürfen. Olga sagte mir, sie sei ziemlich sicher, dass ich ein Stück des Wegs nach Vatopedi zu Fuß zurücklegen müsse; und sie habe noch kaum einen zum heiligen Berg aufbrechen sehen mit etwas so penetrant an die moderne materielle Welt Erinnerndem wie einem Rollkoffer. Deshalb habe ich nur einen Plastikwäschesack vom Eagles Palace dabei – mit Wäsche zum Wechseln, einer Zahnbürste und einem Fläschchen des Schlafmittels Ambien.
Die Fähre tuckert drei Stunden lang an einer felsigen, bewaldeten, doch ansonsten ziemlich kargen Küste entlang und hält unterwegs, um Mönche, Pilger und vorübergehend dort tätige Arbeiter an anderen Klöstern abzusetzen. Der Anblick des ersten Klosters raubt mir den Atem. Das ist kein Gebäude, sondern ein Schauspiel – als hätte jemand Assisi, Todi oder eine andere alte Stadt aus den Hügeln Mittelitaliens an einen |79| einsamen Strand versetzt. Wer nicht weiß, was ihn auf dem Berg Athos erwartet – der in der orthodoxen Ostkirche seit über 1 000 Jahren als heiligster Ort der Erde gilt und lange Zeit in symbiotischer Beziehung mit den byzantinischen Kaisern stand –, der erlebt einen Schock. Die Klöster haben so gar nichts Demütiges. Sie sind prunkvoll, aufwendig und reich verziert und stehen ganz offensichtlich untereinander im Wettbewerb. Früher wurden sie regelmäßig von Seeräubern geplündert. Kein Wunder – jeder anständige Pirat müsste sich
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