Boomerang
Angst um ihre Stellung beim Finanzamt. Nennen wir sie daher Finanzbeamter 1 und Finanzbeamter 2.
Der Finanzbeamte 1 war Anfang 60, Anzugträger, leicht |72| angespannt, doch nicht auffallend nervös. Er erschien mit einem Notizbuch voller Ideen zur Sanierung der griechischen Steuerbehörde. Er setzte voraus, dass ich wusste, dass in Griechenland nur Steuern zahlte, wer es nicht vermeiden konnte – die Angestellten von Unternehmen nämlich, denen die Lohnsteuer direkt vom Gehalt abgezogen wurde. Die große Zahl der Selbstständigen – also jedermann vom Arzt bis hin zu den Betreibern der Kioske, die die
International Herald Tribune
verkauften – betrog (übrigens ein wesentlicher Grund dafür, dass es in Griechenland prozentual mehr Selbstständige gibt als in jedem anderen europäischen Land). »Das ist in unsere Kultur übergegangen«, meinte er. »Die Griechen haben nie gelernt, Steuern zu zahlen. Das kommt daher, dass nie jemand dafür belangt wird, wenn er es nicht tut. Es ist
noch nie
jemand dafür belangt worden. Das ist ein Kavaliersdelikt – als würde ein Herr einer Dame nicht die Türe aufhalten.«
Das Ausmaß der griechischen Steuerbetrügereien war mindestens ebenso unfassbar wie ihre Spielarten. Schätzungsweise zwei Drittel aller griechischen Ärzte wiesen ein Einkommen unter 12 000 Euro im Jahr aus. Weil Einnahmen unterhalb dieser Grenze unversteuert blieben, zahlte auch der Schönheitschirurg, der Millionen im Jahr verdiente, keinen Cent. Das Problem war dabei nicht die Rechtslage. Es gab ein Gesetz, das mit Freiheitsstrafe drohte, wenn einer den Staat um mehr als 150 000 Euro betrog. Es wurde nur nicht umgesetzt. »Würde dieses Gesetz angewendet«, meinte der Finanzbeamte, »säße in Griechenland jeder Arzt im Gefängnis.« Ich lachte und erntete einen verständnislosen Blick. »Das ist mein Ernst.« Verfolgt wird unter anderem deshalb niemand, weil jedes Verfahren willkürlich wäre, denn es tut einfach jeder. Ein anderer Grund ist, dass die griechischen Gerichte bis zu |73| 15 Jahre brauchen, um in Steuersachen zu entscheiden. »Wer nicht zahlen will und erwischt wird, der geht einfach vor Gericht«, erklärt mein Informant. In Griechenland bleiben zwischen 30 und 40 Prozent aller wirtschaftlichen Aktivitäten, für die Einkommensteuer anfallen würde, inoffiziell, wie er sagt. Im übrigen Europa seien es dagegen im Schnitt rund 18 Prozent.
Am leichtesten hinterzog man Steuern, wenn man für Leistungen auf Barzahlung bestand und keine Quittungen ausstellte. Die einfachste Möglichkeit, Geld zu waschen, war der Kauf von Immobilien. Als einziges europäisches Land hat Griechenland kein funktionierendes Grundbuchsystem, was dem Schwarzmarkt sehr entgegenkommt. »Man muss schon wissen, wo jemand Land gekauft hat – also die genaue Adresse –, um es ihm nachzuweisen«, erklärt der Finanzbeamte. »Und selbst dann ist alles handschriftlich und unleserlich.« Aber wenn sich so ein Schönheitschirurg für eine Million in bar ein Grundstück auf einer griechischen Insel kauft und dort eine Villa bauen lässt, dann müsse es doch andere Aufzeichnungen geben, wende ich ein – Baugenehmigungen zum Beispiel. »Die Leute, die Baugenehmigungen erteilen, informieren doch nicht das Finanzamt«, hält der Fachmann dagegen. Und in den offenbar gar nicht so seltenen Fällen, in denen ein Steuerbetrug auffällt, besticht man einfach den Finanzbeamten und alles wird gut. Natürlich gebe es Gesetze gegen die Annahme von Bestechungsgeldern durch Finanzbeamte, erklärte derselbe, »doch wenn man erwischt wird, kann es sieben oder acht Jahre dauern, bis ein Verfahren eingeleitet wird. In der Praxis kümmert das keinen.«
Das systematische Lügen über das eigene Einkommen hat dazu geführt, dass sich die griechische Regierung immer mehr |74| auf die Steuern verließ, die schwerer zu umgehen waren: die Grundsteuer und die Mehrwertsteuer. Die Grundsteuer wird mithilfe einer Formel ermittelt, sodass die Sachbearbeiter hier keinen Einfluss nehmen können. Diese Formel berechnet den sogenannten »objektiven Wert« eines Eigenheims. Durch den Wirtschaftsaufschwung, den Griechenland in den letzten zehn Jahren erlebte, stiegen die Preise, zu denen Immobilien tatsächlich den Besitzer wechselten, weit über die vom Computer erstellten Schätzwerte. Angesichts höherer tatsächlicher Verkaufspreise sollte die Formel an sich nach oben angepasst werden. Der griechische Normalbürger löste dieses Problem, indem er
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