Boomerang
öffentlichen Interesses wieder. Die Aktienkurse der drei wichtigsten |120| irischen Banken, Anglo Irish, AIB und Bank of Ireland, waren während einer einzigen Börsensitzung zwischen einem Fünftel und der Hälfte abgesackt und es hatte ein Run auf die Einlagen irischer Banken eingesetzt. Die irische Regierung war drauf und dran, sämtliche Verbindlichkeiten der sechs größten irischen Banken zu garantieren. Die plausibelste Erklärung dafür hatte Morgan Kelly geliefert: Die irische Wirtschaft war zu einem riesigen Schneeballsystem verkommen und das Land im Grunde bankrott. Doch das widersprach so krass der Geschichte, die von irischen Regierungsvertretern und leitenden Bankmanagern verbreitet wurde – dass die Banken ein »Liquiditätsproblem« hätten und die Anglo Irish »fundamental solide« sei –, dass kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte. Der Regierung lag ein eilig zusammengeschusterter Bericht von Merrill Lynch vor, der besagte, dass »alle irischen Banken rentabel und gut kapitalisiert« seien. Kellys Auffassung wich von der offiziell vertretenen Ansicht unvereinbar ab. Entweder glaubte man das eine oder das andere. Und wer war vor September 2008 schon geneigt, jemandem zu glauben, der sich in seinem Büro vergrub und sein Leben darauf verschwendete, die Auswirkungen der Kleinen Eiszeit auf die englische Bevölkerung zu beschreiben? »Ich trat im Fernsehen auf«, berichtet Kelly. »Zum ersten und zum letzten Mal.«
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Kellys Kollegen von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät des University College verfolgten seine Verwandlung vom ernst zu nehmenden Akademiker in einen amüsanten Spinner und später zum verstörend weitsichtigen Guru mit Interesse. Darunter auch Colm McCarthy, der während der irischen Rezession Ende der 1980er Jahre bei der Kürzung der Staatsausgaben |121| eine maßgebliche Rolle gespielt hatte und sich mit der Schnittmenge von Finanzwirtschaft und öffentlicher Meinung bestens auskannte. Nach McCarthys Ansicht ereignete sich der Umschwung der in den Köpfen der irischen Durchschnittsbürger herrschenden Meinung – und ihre Bereitschaft, Kellys Geschichte ernst zu nehmen – gegen 22 Uhr am 2. Oktober 2008. An jenem Abend gab der Chef der irischen Bankenaufsicht, Patrick Neary – zeit seines Lebens Zentralbankbürokrat und inzwischen über 60 – ein Live-Interview im irischen Fernsehen. Der Moderator klang, als habe er gerade die gesammelten Werke von Morgan Kelly gelesen. Der irische Bankenaufseher dagegen wirkte, als habe man ihn aus einem Loch gezogen, in das er möglichst schnell wieder verschwinden wollte. Sein kleiner Schnurrbart zitterte, als er auswendig gelernte Antworten auf Fragen stammelte, die gar nicht gestellt worden waren – während er die tatsächlich gestellten Fragen ignorierte.
Ein Bankensystem steht und fällt mit dem Vertrauen. Es ist nur so lange lebensfähig, solange die Menschen daran glauben. Zwei Wochen zuvor hatte der Zusammenbruch von Lehman Brothers weltweit Zweifel an den Banken geweckt. Die irischen Banken waren nicht so geführt worden, dass sie solchen Zweifeln standhalten konnten. Ihr Management hatte vielmehr auf blindes Vertrauen gesetzt. Und nun bekamen die Iren endlich einen Eindruck von dem Mann, der für ihre Sicherheit verantwortlich war: der geisteskranke Onkel, der aus dem Keller entsprungen war, in den ihn die Familie gesperrt hatte. Da war er, auf ihren Fernsehschirmen, und behauptete stur, die Probleme der irischen Banken hätten überhaupt nichts mit den von ihnen vergebenen Krediten zu tun … wo doch jeder, der Augen im Kopf hatte, sehen konnte – an den |122| überall leer stehenden Hochhäusern und unbewohnten Wohnanlagen –, dass die Darlehen der Banken nicht nur faul, sondern nachgerade irrwitzig waren. »Alle Iren pflegten die Vorstellung, dass da irgendwo in Irland ein weiser alter Greis saß, der auf ihr Geld aufpasste – und nun hatten sie dieses Männchen erstmals zu Gesicht bekommen«, beschreibt McCarthy das Ganze. »Und bei seinem Anblick sagten sie:
Wer zum Teufel war das denn? Das soll der Typ sein, der für unser Geld verantwortlich ist??
Da brach die Panik aus.«
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Am Morgen des Tages, an dem die irische Regierung ihren brutalen neuen Haushalt vorstellen wollte, nahm ich meinen Platz auf der Besuchergalerie des irischen Parlaments ein. Neben mir saß eine Referentin von Joan Burton, die als Finanzsprecherin der Labour Party seinerzeit gute Aussichten hatte, Irlands nächste
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