Boomerang
Häuser oder Bankkredite befreien. Die Iren werden ihnen erzählen, nicht zuletzt wegen ihrer traurigen, von Enteignung geprägten Geschichte, dass Wohneigentum für sie nicht nur eine Möglichkeit darstellt, Miete zu sparen, sondern ein Zeichen für Freiheit. Und im eifrigen Streben nach Freiheit haben sich die Iren ihr eigenes Gefängnis gebaut. Und ihre Führungsspitze hat ihnen dabei geholfen.
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Kurz vor dem Ertönen der Schlussglocke kommen zwei Männer in die Kammer, die den Iren eingeredet haben, sie seien nicht nur für ihre eigenen desaströsen Finanzentscheidungen verantwortlich, sondern auch für die ihrer Banken: Premierminister |128| Brian Cowen und Finanzminister Brian Lenihan. Wie der Oppositionsführer und der dritthöchste Funktionär ihrer eigenen Partei sind beide Kinder von Politikern, die während ihrer Amtszeit verstarben. In Irland ist Politik Familiensache. Cowen war zufällig von 2004 bis Mitte 2008 Finanzminister – in der allerheikelsten Phase also. Auf den ersten Blick wirkt er nicht wie eine Führungspersönlichkeit. Er bewegt sich träge und schwerfällig, seine Gesichtszüge sind durch seine Körperfülle geprägt, sein natürlicher Gesichtsausdruck wirkt eher verwirrt. Ein paar Wochen zuvor hatte er sich vormittags landesweit im Radio geäußert und klang dabei für das geübte irische Ohr angetrunken. Mein weniger trainierter Gehörsinn nahm ihn nur als angeschlagen wahr, doch die Öffentlichkeit neigt nicht zur Nachsicht. (Vier verschiedene irische Quellen versicherten mir sehr nachdrücklich, Cowen habe Irlands Bankgarantie über 440 Milliarden Euro aus einem Pub an die Europäische Zentralbank gefaxt.) Und es stimmt schon: Als Prototyp für einen Mann, der gern mal einen über den Durst trinkt, wäre der irische Premierminister erste Wahl. Brian Lenihan, der Cowen auf den plumpen Fersen folgt, wirkt dagegen wie ein Zehnkämpfer in Hochform.
An jenem Tag beschließt das Parlament nicht ganz unerwartet das dennoch Unglaubliche: Drei der vier leeren Sitze sollen nicht durch Abstimmung besetzt werden. Dann wird die Sitzung vertagt und ich verbringe eine Stunde mit Joan Burton. Von den großen Parteien Irlands kann die Labour Party noch am ehesten mit einer abweichenden Meinung und Kritik am irischen Kapitalismus aufwarten. Als eine von nur 18 Abgeordneten des irischen Unterhauses, die gegen die Bürgschaft für die Bankschulden votierten, genießt Burton |129| selten gewordene Glaubwürdigkeit. In unserem einstündigen Gespräch wirkt sie auf mich geradlinig, intelligent und im Grunde ermutigend. Doch ihre Rolle im irischen Drama ist genauso klar umrissen wie die Morgan Kellys: Sie ist die warnende Mutter, auf die keiner hört. Wenn sie spricht, hört man förmlich die Ausrufezeichen, und ihre weinerliche Stimme geht den Iren auf die Nerven – und wird sogar auf nationalen Radiosendern parodiert. Als ich sie frage, was sie denn anders machen würde als die irische Regierung, wirkt auch sie ratlos. Wie jeder irische Politiker ist sie auf Gnade und Ungnade Kräften ausgeliefert, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Die irischen Bankschulden sind jetzt irische Staatsschulden, und jede Anspielung auf einen Ausfall lässt die Kosten für die Kreditaufnahme im Ausland, ohne die Irland zurzeit nicht auskommt, weiter steigen. »Wussten Sie, dass die Iren mittlerweile Experten für Anleihen sind?«, fragt Burton. »Sie sagen inzwischen sogar 100 Basispunkte statt 1 Prozent! Sie haben einen ganz neuen Wortschatz entwickelt!«
Je klarer das Ausmaß der irischen Verluste, desto geringer die Bereitschaft privater Anleger, den irischen Banken auch nur Tagesgeld anzuvertrauen. Das Interesse an längerfristigen Bankanleihen ist vollständig erloschen. Die Europäische Zentralbank ist ohne viel Aufhebens in die Bresche gesprungen. Eine der am aufmerksamsten verfolgten Zahlen in Europa ist der Betrag, den die EZB irischen Großbanken geliehen hat. Ende 2007, als die Märkte noch durch Unglauben gelähmt waren, hatten die Banken 6,5 Milliarden Euro aufgenommen; im Dezember 2008 waren es schon 45 Milliarden. Während meines Gesprächs mit Burton stieg die Summe von rund 86 Milliarden auf ein neues Hoch von 97 Milliarden. Das bedeutet: Irische Banken haben sich von November 2007 bis |130| Oktober 2010 97 Milliarden Euro bei der Europäischen Zentralbank geliehen, um private Gläubiger zu bedienen. Im September 2010 war der letzte große Batzen fällig, den die irischen Banken ihren
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