Boomerang
von billigem Geld aus dem Ausland hatte aus dem Nationalcharakter einen neuen Zug herausgekitzelt. »Wir sind eigentlich hartgesottene, pessimistische Menschen«, |115| erklärt Kelly. »Wir haben kein Auge fürs Positive.« Doch seit der Jahrtausendwende benahmen sich viele, als wäre jeder nächste Tag sonniger als der letzte. Die Iren hatten den Optimismus entdeckt.
Ihr Immobilienboom erinnerte an ein dunkles Familiengeheimnis, das gewahrt bleiben konnte, solange niemand Fragen stellte – und der Boom wurde nicht hinterfragt, solange er sich zu halten schien. Immerhin – als sich der Wert irischer Immobilien erst von den Mieten abgekoppelt hatte, gab es praktisch keine Zahlen mehr, die sich nicht rechtfertigen ließen. Als der irische Unternehmer Denis O’Brien für sein eindrucksvolles Anwesen in der Shrewsbury Road in Dublin 35 Millionen Euro zahlte, hielt man das nur so lange für teuer, bis die Frau des Immobilienentwicklers Sean Dunne 58 Millionen Euro für ein renovierungsbedürftiges 370-Quadratmeter-Domizil eine Straße weiter auf den Tisch blätterte. Doch sobald man den Anstieg der Preise mit anderen Immobilienbooms verglich, erhielt die Diskussion eine ganz neue Grundlage. Die Argumentation funktionierte nicht mehr. Die Vergleiche, die sich Morgan Kelly dabei unwillkürlich aufdrängten, betrafen die Häuserblasen in den Niederlanden in den 1970er Jahren (nachdem in Holland Erdgas entdeckt worden war) und im Finnland der 1980er Jahre (nach Ölfunden vor der finnischen Küste). Doch ganz gleich, welche Beispiele er aufgriff – allein schon die Vorstellung, dass Irland kein Ausnahmefall war, machte Angst. »In Bezug auf die Häuserpreise gibt es ein ehernes Gesetz«, schrieb er. »Je stärker sie im Verhältnis zu Einkommen und Mieten anziehen, desto tiefer fallen sie im Anschluss.«
Kellys Problem war nun, was er mit diesen Gedanken anfangen sollte, nachdem sie ihm gekommen waren. »Das war |116| eigentlich nicht mein Thema«, erzählt er. »Ich befasste mich mit mittelalterlicher Bevölkerungstheorie.« Als ich auf ihn stieß, hatte Kelly bereits das gesamte irische Establishment in Wirtschaft und Politik verärgert und verunsichert. Selbst war er jedoch weder das eine noch das andere, und besonders aufmerksamkeitsversessen auch nicht. Er ist kein Freund großer Medienauftritte. Er arbeitet in einem Büro, das erbaut wurde, als Irlands höhere Bildung noch auf Linoleumfußböden unter Neonröhren und umgeben von Blechregalen stattfand. Es erinnert eher an eine Werkstatt als an eine Kaderschmiede für die Immobilien- und Finanzwirtschaft – und es gefällt ihm so. Er wirkt ein bisschen mutwillig, unverstellt und ganz offensichtlich vernünftig – obwohl man dieses Wort in Irland mit Vorsicht verwenden sollte. Zwar stellt er sein Licht nicht unbedingt unter den Scheffel, ist aber eindeutig kein Selbstdarsteller. Trotz Jahren an der Hochschule und einem Doktortitel von Yale konnte er sich eine gewisse kindliche Neugier bewahren. »Ich war wie der Passagier auf einem Schiff«, schildert er, »der einen großen Eisberg sieht. Und der deshalb zum Kapitän geht und ihn fragt: Ist das ein Eisberg?«
***
Seine Warnung an den Schiffskapitän erschien in Form des ersten Zeitungsartikels, den er in seiner Laufbahn verfasste. Dessen Kernaussage war: »Es ist durchaus im Bereich des Möglichen, dass die Preise [für irische Immobilien] in Relation zu den Einkommen um 40 bis 50 Prozent fallen könnten.« Im oberen Marktsegment, so vermutete er, könnten sie sogar um ganze 66 Prozent einbrechen. Diesen ersten Artikel schickte er an die nicht eben auflagenstarke
Irish Times
. »Aus einer Laune heraus«, erzählt er. »Ich war im Grunde gar nicht |117| sicher, ob
ich
überhaupt glaubte, was ich da geschrieben hatte. Mein Standpunkt war stets: ›Man kann die Zukunft nicht vorhersagen.‹« Dabei hatte Kelly die Zukunft sogar unheimlich exakt vorhergesagt. Doch glauben konnte ihm nur, wer akzeptierte, dass Irland keine exotische Ausnahmeerscheinung in der Finanzgeschichte der Menschheit war. »Ich erreichte nichts«, stellt Kelly fest. »Mein Artikel wurde allgemein belächelt.
Was fällt diesen versponnenen Eierköpfen wohl als Nächstes ein?
– so oder ähnlich sahen die Reaktionen aus.«
Nun, dieser spezielle versponnene Eierkopf erkannte als Nächstes den offensichtlichen Zusammenhang zwischen den irischen Immobilienpreisen und den Banken des Landes. Schließlich wurde die Bautätigkeit größtenteils von
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