Boomerang
hatte es für nötig befunden, die Sache publik zu machen, und kein Mensch hatte auf ihn gehört. (Siehe
No One Would Listen: A True Financial Thriller
von Harry Markopolos.)
|222| Der Bürgermeister konnte in seinen Verhandlungen mit den Gewerkschaften nicht das Geringste erreichen. »Ich verstehe die Polizisten und Feuerwehrleute«, sagt er. »Sie glauben, sie sind die Wichtigsten, und alle anderen müssten zuerst gehen.« Vor kurzem kam von der Polizeigewerkschaft der Vorschlag, die Büchereien doch auch an den anderen vier Tagen der Woche zu schließen. »Wir haben es durchgerechnet«, erzählt Reed. »Wenn wir die Büchereien einen weiteren Tag dichtmachen, können wir von dem eingesparten Geld zwanzig bis dreißig Polizisten bezahlen.« Allerdings wäre das Problem damit nicht gelöst. Die Polizisten, die man in diesem Jahr nicht entließ, würden im nächsten dran glauben müssen, weil die Rentenkosten für diejenigen städtischen Angestellten, die bereits in den Ruhestand gegangen waren, sprunghaft anstiegen. Am anderen Ende des Ungleichgewichts steht der Steuerzahler von San José, der kein Interesse daran hat, stärker zu Kasse gebeten zu werden als bisher. »Es geht nicht darum, dass wir bankrott wären und unsere Rechnungen nicht mehr bezahlen könnten«, bemerkt Reed. »Es geht um die Bereitschaft.«
Ich frage ihn, wie die Chancen für die Stadt stehen, angesichts der kritischen Situation Steuererhöhungen durchzusetzen. Er zeigt es mit Daumen und Zeigefinger an: gleich null. Er habe kürzlich einen Begriff geprägt, fügt Reed an: »Dienstleistungsinsolvenz«. Dienstleistungsinsolvenz heißt, dass das Gemeindezentrum, das gebaut wurde und einen Namen bekommen hat, nicht eröffnet werden kann. Es heißt, dass die Büchereien an drei Tagen der Woche geschlossen bleiben. Es ist kein finanzieller Bankrott; es ist der kulturelle Bankrott.
»Wie um alles in der Welt konnte das passieren?«, frage ich ihn.
|223| »Ich kann es nur so erklären«, lautet seine Antwort, »dass sie das Geld bekommen haben, weil es da war.« Aber er hat noch eine andere Erklärung parat, und lange hält er mit ihr nicht hinter dem Berg.
»Ich glaube, dass wir einem Massenwahn verfallen sind«, meint er.
Ich verstand nicht recht, was er damit sagen wollte.
»Wir werden alle reich werden«, erklärt er. »Wir werden ewig leben. Alle Kräfte im Staat stehen stramm, um den Status quo zu erhalten. Um die Illusion aufrechtzuerhalten. Und hier – an diesem Ort – schlägt die Wirklichkeit zu.«
Auf dem Weg zu den Aufzügen unterhielt ich mich mit zwei von Reeds Referenten. Er hatte davon gesprochen, dass es, so schlimm es in San José auch scheinen mochte, in anderen USamerikanischen Städten noch viel düsterer aussah. »Wenn ich mit den Bürgermeistern anderer Städte spreche, kann ich mich noch glücklich schätzen«, war seine Meinung.
»Was meinen Sie, welche Stadt am ärmsten dran ist?«, fragte ich, bevor sich die Aufzugtüren schlossen.
Die Referenten lachten und antworteten unisono: »Vallejo!«
***
Willkommen in Vallejo, Stadt der Möglichkeiten, liest man auf einem Schild, wenn man in den Ort hineinfährt, aber in den Schaufenstern derjenigen Läden, die noch geöffnet sind, hängen Schilder, auf denen steht: Wir akzeptieren Lebensmittelmarken. Vor leer stehenden Geschäften sprießt das Unkraut, sämtliche Ampeln sind auf Blinklicht gestellt, was eine reine Förmlichkeit darstellt, da es keine Polizisten zur Überwachung des Straßenverkehrs mehr gibt. Vallejo ist die einzige Stadt in der Bay Area, in der man sein Auto abstellen |224| kann, wo man will, ohne einen Strafzettel befürchten zu müssen, weil es auch keine Politessen mehr gibt. Die Fenster des Rathauses sind dunkel, aber auf der Vordertreppe herrscht geschäftiges Treiben. Ein junger Mann mit nach hinten gedrehter Baseballkappe, Sonnenbrille und nagelneuen Nike-Turnschuhen hat sich auf einem Mäuerchen postiert und ruft eine Adresse aus: »Cambridge Drive Nummer 900«, lautet seine Ansage. »In Benicia.«
Die Menschen in der Menge, die sich unten auf der Straße angesammelt hat, fangen sofort an zu bieten.
Von 2006 bis 2010 sind die Immobilienpreise in Vallejo um 66 Prozent gefallen. Eines von sechzehn Wohnhäusern in der Stadt wird zwangsversteigert. Dies ist offensichtlich die erste Versteigerung, aber die Typen, die sie durchführen, sind so finstere, zwielichtige Gestalten, dass ich es kaum glauben kann. Ich bleibe stehen, um einen der Bieter zu
Weitere Kostenlose Bücher