Boomerang
gebildet wie ein durchschnittliches Reptil.« Umhüllt ist dieser reptilienartige Kern, so erklärt er weiter, von einer Säugetierschicht (verbunden mit mütterlicher Fürsorge und sozialer Interaktion), und diese wiederum ist eingehüllt in eine dritte Schicht, auf der Erinnerungsvermögen und die Fähigkeit zum abstrakten Denken beruhen. »Das Problem ist nur«, fährt er fort, »dass wir in unseren Interessen und Leidenschaften immer noch von dem Reptilienkern angetrieben werden. Wir sind so veranlagt, dass wir von den Dingen, von denen es unserer Wahrnehmung nach nicht genug gibt – allen voran Sex, Sicherheit und Essen –, so viel wie möglich haben wollen.« Selbst ein Mensch, der gerade Diät hält und um jeden Schokoladenkuchen tunlichst einen weiten Bogen macht, wird es schwer finden, sich zu beherrschen, wenn ihn der Schokoladenkuchen doch irgendwie erwischt. Jeder Konditor in den Vereinigten Staaten hat das begriffen, und jetzt |230| begreift es auch die Neurowissenschaft. »Es ist schwer, die Belohnungsmechanismen des Gehirns zu unterdrücken, wenn plötzlich Überfluss herrscht«, sagt Whybrow. »In diesem Augenblick bringt das Essen des Schokoladenkuchens mehr Gewinn als das Einhalten der Diät. Wir können nicht weiter denken als an den Augenblick.«
Die reichste Gesellschaft, die die Welt je gesehen hat, ist dadurch reich geworden, dass sie immer effektivere Methoden entwickelt hat, um den Menschen geben zu können, was sie haben wollen. Die Wirkung von augenblicklichen Belohnungen auf das Gehirn könnte man mit der Wirkung vergleichen, die eine Nichtbenutzung der linken Hand auf die rechte hat: Je mehr wir den Reptilienkern bemühen, umso dominanter wird er. »Was wir tun, ist, dass wir den Teil unseres Gehirns, den Reptilien nicht besitzen, so wenig wie möglich benutzen«, sagt Whybrow. »Wir haben eine physiologische Funktionsstörung erzeugt. Wir haben die Fähigkeit zur Selbstregulierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen verloren. Die fünf Millionen Dollar, die sie dir bei Goldman Sachs zahlen, wenn du tust, was sie von dir verlangen – das ist der Schokoladenkuchen in aufgerüsteter Form.«
In der langen Folge von Finanzblasen und dem Anhäufen persönlicher und öffentlicher Schulden sieht Whybrow lediglich einen Ausdruck der vom Reptiliengehirn gesteuerten Lebensweise. Wenn man eine farbkodierte Karte der Verschuldung privater US-Haushalte über eine der Karten legen würde, mit denen die Centers for Disease Control den unglaublichen Anstieg der Fettleibigkeit in den Vereinigten Staaten seit 1985 dokumentieren, so würde man keine große Abweichung im allgemeinen Muster erkennen. Der boomende Handel mit individuellen Aktienportfolios, die Ausbreitung legaler Glücksspiele, |231| die Zunahme von Drogen- und Alkoholkonsum – das alles gehört zum Bild. Wohin man auch blickt, überall sieht man, wie Amerikaner ihre langfristigen Interessen zugunsten einer schnellen Belohnung opfern.
Was passiert, wenn eine Gesellschaft die Fähigkeit zur Selbstregulierung verliert und ihre langfristigen Interessen zugunsten schneller Belohnungen opfert? Wie geht die Geschichte dann aus? »Wir wären in der Lage, uns selbst zu regulieren,würden wir nur einen Gedanken daran verschwenden«, meint Whybrow. »Aber es sieht nicht danach aus, als wären wir dazu bereit.« Neben diesem höchst unwahrscheinlichen Ausgang der Geschichte schweben Whybrow zwei Möglichkeiten vor. Die erste illustriert er mit einer wahren Geschichte, die man mit »Parabel des Fasans« überschreiben könnte. Im letzten Frühjahr konnte Whybrow, der ein Sabbatjahr an der Universität Oxford genommen hatte, überraschend ein Apartment in Blenheim Palace, dem Familiensitz der Churchills, mieten. Es war ein kalter Winter gewesen, und die Fasanenjäger hatten ganze Arbeit geleistet: Ein einziger Fasan hatte in den Gärten überlebt. Der Vogel konnte die unumschränkte Herrschaft über ein frisch eingesätes Feld übernehmen. Seiner Nahrungsaufnahme, normalerweise der natürlichen Regulierung durch die Umwelt unterworfen, waren keine Grenzen mehr gesetzt: Er konnte so viel essen, wie er wollte, und genau das tat er auch. Der Fasan wurde so groß, dass er alle Vögel, die ihm sein Futter streitig machen wollten, mühelos in die Flucht schlagen konnte. Der Riesenfasan wurde zu einer Touristenattraktion und bekam sogar einen Namen: Henry. »Henry war der größte Fasan, den je ein Mensch gesehen hatte«, erzählt Whybrow. »Selbst als er
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