Boomerang
zu wohnen. Jetzt ist es so, dass sie umso eher die Stadt verlassen, je mehr wir ihnen bezahlen, weil sie es sich leisten können, ins Grüne zu ziehen. Wann sind wir dazu übergegangen, dass sich die Leute, anstatt Krankenurlaub zu nehmen, die Zeiten anschreiben und sich dafür, wenn sie nicht mehr arbeiten, Hunderttausende von Dollars auszahlen lassen? Das ist ein einziger Filz. Die Leute sind nicht nur in finanzieller Hinsicht korrupt, das ganze System des öffentlichen Dienstes ist korrumpiert.
Als Reed im Jahr 2000 in die Stadtverordnetenversammlung gewählt wurde, waren Rentenzahlungen, wie er sagt, überhaupt kein Thema für ihn. »Ich kann nicht behaupten, gesagt zu haben: ›So oder so sieht mein Plan aus.‹ Ich hatte über so etwas gar nicht nachgedacht. Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn.« Erst als San Diego 2002 in Erwägung zog, Insolvenz anzumelden, fing er an, sich über die Finanzen seiner Stadt Gedanken zu machen und sich mit dem Thema zu |220| beschäftigen. »Erst zu diesem Zeitpunkt wurde mir klar, dass wir vor gewaltigen Problemen standen«, erzählt er. »Erst dann fing ich an, darauf zu achten. Und ich begann, Fragen zu stellen: Konnte auch uns das passieren? Es ist wie mit der Immobilienblase und der Dotcom-Blase. Es gab Leute, die darüber geschrieben haben. Es ist nicht so, als würde einem niemand sagen, dass das Ganze Wahnsinn ist. Du willst nur einfach nicht glauben, dass du wahnsinnig bist.«
Er reicht mir ein Diagramm herüber. Für das Jahr, in dem er sich für das Thema zu interessieren begann, weist es Rentenkosten in Höhe von 73 Millionen Dollar aus. In diesem Jahr würden es 245 Millionen Dollar sein: Die Kosten der Renten und Gesundheitsversorgung für städtische Bedienstete im Ruhestand verschlingen inzwischen mehr als die Hälfte des gesamten Haushaltsbudgets. In drei Jahren werden sich die Rentenzahlungen allein auf 400 Millionen Dollar jährlich belaufen, aber »wenn man die tatsächliche Lebenserwartung der Leute berücksichtigt, werden es wohl eher 650 Millionen Dollar sein«. Da die Stadt gesetzlich verpflichtet ist, diese Zahlungen zu leisten, muss sie an anderen Stellen sparen. Infolgedessen muss San José jetzt mit 5 400 statt wie vorher mit 7 400 städtischen Bediensteten auskommen. Sie ist auf den Personalstand von 1988 zurückgefallen, als die Stadt eine Viertelmillion weniger Einwohner hatte. Die jetzigen Bediensteten mussten eine 10-prozentige Gehaltskürzung hinnehmen, aber selbst das reichte nicht, um den Anstieg der Rentenkosten wettzumachen. Die Stadt hat begonnen, ihre Büchereien an drei Tagen der Woche zu schließen. Sie hat die Gelder für die Parkverwaltungen gekürzt. Sie hat darauf verzichtet, ein nagelneues, vor der Immobilienkrise gebautes Gemeindezentrum zu eröffnen, weil sie sich die Personalkosten für seinen Unterhalt |221| nicht leisten kann. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt wurden Polizisten und Feuerwehrleute entlassen.
Reed hat ausgerechnet, dass San José – eine Stadt mit einer Million Einwohnern, die zehntgrößte Stadt in den Vereinigten Staaten – 2014 nur noch 1 600 Leute im öffentlichen Dienst beschäftigen würde. »Mit einem solchen Personalstand kann man eine Stadt nicht regieren«, sagt er. »Du fängst an, dich zu fragen: ›Was macht eine Stadt aus? Warum leben wir überhaupt zusammen?‹ Aber das ist nur der Anfang.« Die Lage würde sich immer mehr zuspitzen, bis, wie er es formuliert, »nur noch einer übrig ist«. Ein einziger Angestellter im Dienst der Stadt, dessen Hauptaugenmerk vermutlich auf die Rentenzahlungen gerichtet ist. »Ich weiß nicht, wie lange es dauert«, meint Reed, »bis nur noch einer übrig ist, aber allzu weit sind wir nicht mehr davon entfernt.« An diesem Punkt, wenn nicht schon früher, wäre die Stadt nicht mehr als eine Rentenzahlmaschine für ihre früheren Angestellten. Die einzig mögliche Lösung läge darin, dass die ehemaligen städtischen Bediensteten auf der Stelle tot umfallen würden. Aber die ehemaligen städtischen Bediensteten erfreuten sich eines längeren Lebens als je zuvor.
Hier ging es, Reeds Worten zufolge, nicht um eine hypothetische Bedrohung. »Es war eine mathematische Unausweichlichkeit.« Das Ganze erinnerte mich an Bernard Madoffs Investmentgeschäft. Jedem, der sich Madoffs Renditen ansah und die Zahlen begriff, musste klar sein, dass es sich hier um ein Schneeballsystem handelte. Doch lediglich ein Mann, der die Zahlen begriffen hatte,
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