Boomerang
langweilte. »Diese kommunalen Sachen interessieren mich nicht so sehr«, hatte er geantwortet. »Ich bin für die Welt geboren.«
***
Eine Stunde ist seit dem Beginn der wöchentlichen Tagung der Stadtverordnetenversammlung in San José vergangen, und ich wünsche mir, auch ich wäre für die Welt geboren. Etwa hundert Bürger der Stadt gähnen und simsen, während die Stadtverordneten die Bauernmarkt-Woche würdigen; die wenigen Leute, die so ausgesehen haben, als würden sie zuhören, stehen auf und gehen, nachdem die Würdigung beendet ist. Als Nächstes würdigt die Versammlung den Tag der assyrischen Märtyrer, der zum »Gedenken an den Mord an dreitausend |215| Menschen im August 1933 und an 2 000 Jahre der Verfolgung assyrischer Christen« alljährlich am 7. August begangen wird. Etwa dreißig Anwesende wenden ihre Aufmerksamkeit vom Mobiltelefon der Gedenkzeremonie zu, dann stehen auch sie auf und verlassen den Saal. Nur noch eine Handvoll Zuhörer sind anwesend, als der Stadtdirektor die neuesten trostlosen Nachrichten zur finanziellen Lage zum Besten gibt: Der Staat Kalifornien hat sich erneut mehrere zehn Millionen Dollar unter den Nagel gerissen und »die Stadt hat sich von vierzig Beschäftigten getrennt«. (Neue Zeiten erfordern neue sprachliche Beschönigungen.) Ein Meinungsforscher stellt eines seiner Umfrageergebnisse vor, demzufolge eine Bürgerabstimmung über Maßnahmen, die Steuererhöhungen beinhalten würden, keine Aussicht auf Erfolg hätte, gleichgültig, wie die Fragen formuliert wären. Ein Zahlenmensch steht auf und erklärt, dass die von der städtischen Rentenkasse zu erzielenden Anlagenerträge nicht annähernd so hoch ausfallen werden wie angenommen. Zusätzlich zu der Tatsache, dass ohnehin nicht genug Geld in dem fraglichen Topf ist, wird sich dieser auch nicht in dem Maße füllen, wie alle gehofft haben, sodass die Lücke zwischen dem, was den städtischen Bediensteten zusteht, und dem, was vorhanden ist, noch größer ausfallen wird, als man es sich vorgestellt hatte. Daraufhin beschließt die Versammlung, eine Abstimmung um sechs Wochen zu verschieben: darüber, ob die Haushaltslage der Stadt zum »öffentlichen Notstand« erklärt und damit Bürgermeister Chuck Reed mit Sondervollmachten ausgestattet werden soll.
Nach jedem neuen Tagesordnungspunkt pocht ein schwergewichtiger Mann, der in einen Blue-Jeans-Overall mehr gehüllt als gekleidet ist, auf sein Recht, zu jedem Thema fünf Minuten gehört zu werden: Ein ums andere Mal erhebt er sich |216| von seinem Platz in der ersten Zuhörerreihe, watschelt zum Rednerpodest und äußert seine anspruchvoll klingende, aber völlig unverständliche Kritik an allem und jedem. »
Der absolute Kompetenzverlust der Regierung wird in Bezug auf das, was heute abgelaufen ist, prognostiziert
…«
Das Verhältnis der Menschen zu ihrem Geld ist in Kalifornien dergestalt, dass man jede Stadt nach dem Zufallsprinzip herauspicken und eine Krise diagnostizieren könnte. Die Stadt San José weist nach New York das höchste Pro-Kopf-Einkommen aller US-amerikanischen Städte auf und genießt mit ihren 250 000 Einwohnern die höchste Kreditwürdigkeit aller kalifornischen Kommunen. San José ist eine der wenigen USamerikanischen Städte mit einem Triple-A-Rating der Rating-Agenturen Moody’s und Standard & Poor’s – das allerdings nur, weil ihre Anleiheninhaber mächtig genug sind, die Stadt zur Erhebung von Grundbesitzsteuern zu zwingen, damit sie ihre Anleihen zurückzahlen kann. Die Stadt selbst befindet sich nicht allzu weit von einem Bankrott entfernt.
Es ist später Nachmittag, als ich mich mit Bürgermeister Chuck Reed in seinem Büro in der obersten Etage des Rathausturmes treffe. Unten auf der Straße hat die Menge gerade angefangen, Parolen zu skandieren. Wie üblich demonstrieren die öffentlichen Bediensteten gegen ihn. Reed ist so gewöhnt an die Proteste, dass er sie kaum registriert. Er ist ein ehemaliger Bomberpilot der Air Force und Vietnamveteran mit einem Hang zum Intellektuellen sowie der zugeknöpften Art eines Farmers aus dem Mittleren Westen. Er hat in Princeton seinen Master-Abschluss, in Stanford seinen Jura-Abschluss gemacht und sich ein Leben lang für Politik interessiert. Dennoch gibt er weniger das Bild eines Bürgermeisters einer kalifornischen Großstadt ab als das eines knallharten, aufrechten |217| Kleinstadtsheriffs, der keinen Ärger haben will. Im Jahr 2000 war er zum Stadtverordneten und sechs Jahre
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