Borderlands
saß, welche zu einem Strand hinunterführte.
Es war das gleiche Foto wie das, das ich aus dem Karton mit Ratsy Donagheys
Habseligkeiten genommen hatte.
Die
Polizei bittet nach wie vor um Mithilfe bei der Suche nach der vermissten Mary
Knox, die am Silvesterabend verschwand. Miss Knox zog vor drei Jahren hierher;
zuvor hatte sie in Manchester gelebt. Sie hat einen deutlichen englischen
Akzent. Sie ist von durchschnittlichem Körperbau und hat braune Haare und
Augen. Miss Knox war im hiesigen Milieu wohlbekannt und wurde zuletzt in einem geblümten
Kleid und schwarzen hochhackigen Stiefeln gesehen.
Auffällig war der Wechsel in die
Vergangenheitsform im letzten Satz – möglicherweise war einem Redakteur
versehentlich ein Lapsus unterlaufen; vielleicht handelte es sich aber auch um
das pragmatische Eingeständnis, dass Mary Knox nach nunmehr elf Tagen nicht
mehr zurückkehren würde. In den darauffolgenden Wochen wurden die Meldungen
immer kürzer, bis schließlich eine Woche ohne einen Artikel verging und Mary
Knox in Vergessenheit geriet.
Ich musste
beinahe acht Monate zurückgehen, ehe ich wieder auf ihren Namen stieß. Hendrys
Bemerkung über ihren Lebensstil hatte mich misstrauisch gemacht, deshalb sah
ich in jeder Ausgabe des ›Chronicle‹ auf der Seite mit der
Gerichtsberichterstattung nach, und im April 1978 tauchte ihr Name dort auch
tatsächlich auf: Mary Knox, ohne festen Wohnsitz, war wegen Prostitution und
Straßenprostitution vor Gericht gestellt worden. Sie bekannte sich schuldig,
nachdem das Gericht die Aussage von Sergeant Gerry Willard gehört hatte,
derzufolge er gesehen hatte, wie die Beklagte auf der Leckpatrick Road gegen
Geld sexuelle Dienste geleistet habe. Richter Edward Benning verwarnte Miss
Knox, sie müsse mit einer Haftstrafe rechnen, wenn sie mit diesem Verhalten
fortfahre. Er erklärte, er würde sie diesmal nur wegen der von ihr abhängigen
Personen verschonen.
Während auf dem Bildschirm die
Zeitungsausgaben an mir vorbeizogen, tauchte der Name Mary Knox noch vier
weitere Male auf: zwei Mal wegen Straßenprostitution, zwei Mal wegen Trunkenheit
und Störung der öffentlichen Ordnung. In einem der Fälle von
Straßenprostitution war der Polizist, der als Zeuge ausgesagt hatte, Constable
James Hendry gewesen. Die von Knox abhängigen Personen wurden nicht wieder
erwähnt.
Ich rief Hendry an und bat ihn, sich zum
Mittagessen mit mir zu treffen, das, als er schließlich kam, aus in Wachspapier
eingewickelten Sandwiches bestand, die wir auf einer Bank vor der Bibliothek
verzehrten. Die Sonne stand tief, und unsere Schatten fielen lang über den Bürgersteig.
»Irgendwas
Neues über Knox?«, fragte ich und versuchte, gleichzeitig zu essen und zu
reden, was mir beides nicht sonderlich gut gelang.
»Eigentlich
nicht mehr als das, was ich Ihnen gestern gesagt habe.«
»Da haben Sie
mir nicht erzählt, dass Sie sie mal festgenommen haben.«
»Hab ich das?
Daran erinnere ich mich nicht, aber ich habe es bestimmt mal getan. Sie war
eins von den Originalen, die jeder in der Stadt kennt. Es hieß, sie hätte jedem
Uniformierten, der ihr einen Freifahrtschein ausstellte, ne heiße Nummer
versprochen.« Rasch fügte er hinzu: »Nicht, dass ich von dem Angebot je
Gebrauch gemacht hätte.«
»Hat sie auf
dieser Seite der Grenze gearbeitet oder auf der anderen?«, wollte ich wissen
und wischte mir die Mayonnaise vom Mund.
»Auf beiden,
nehme ich an«, erwiderte Hendry. »Sie hatte einen ziemlich großen Kundenstamm,
alles in allem. Wenn sie sich zur Vermittlerin berufen gefühlt hätte, wäre sie
ein Eine-Frau-Friedensprozess gewesen.«
»Keine Idee,
was ihr passiert sein könnte?«, fragte ich.
»Sie ist tot«,
sagte Hendry nüchtern, knüllte sein Wachspapier zu einer Kugel zusammen und
zielte damit auf den Papierkorb neben unserer Bank. Das Papier traf den Rand
und fiel auf die Straße. Eine Frau, die mit ihren beiden Kindern an uns
vorbeikam, blickte vom Papier zu uns und runzelte missbilligend die Stirn. »Ich
würde sagen, sie ist unter einem Wohnkomplex begraben, oder im Wald, oder an
einem Strand oder unter irgendeinem Parkplatz«, fügte Hendry hinzu.
»Wer hat es
getan?«
»Schwer zu
sagen, wirklich. Damals hat die IRA ja eine ganze Menge Leute
›verschwinden‹ lassen: Denunzianten, vermeintliche Denunzianten, Leute, die
sich beim Bäcker oder Metzger negativ über sie äußerten. Die Leute verschwanden
auf Nimmerwiedersehen. Damals wollten die Provos es nicht zugeben,
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