Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
und seine Eltern sahen mich an, als wäre ich einer anderen Welt entstiegen. Mein Realitätsverlust war offensichtlich. Wenn ich etwas gefragt wurde, nickte ich nur und versuchte, krampfhaft an etwas anderes zu denken, um nicht wieder lachen zu müssen. Mirko gestand, ohne Wenn und Aber. Ich nickte nur, zeigte keine Reue, sondern lachte. Ich lachte laut. Trotzdem wurden wir beide zur gleichen Strafe verurteilt: zwei Tage gemeinnützige Arbeit auf einem Fußballplatz auf St. Pauli. Wir schrubbten die Böden der Umkleidekabinen und des Vereinsheims.
Der Weg ins Herz der Finsternis von St. Pauli schien mir nun vorbestimmt. In der Schule lernte ich ständig neue Gangmitglieder kennen. Die Lehrer hatten es immer schwerer mit uns Halbstarken. Einmal spuckte ich auf den Boden der Turnhalle und beschimpfte den Lehrer als Arschloch. Die Strafe: sechs Wochen Schulverbot, was für mich allerdings alles andere als eine Strafe war. Ich triumphierte: Endlich durfte ich ganz offiziell der Schule fernbleiben. Außerdem brachte mir die ganze Aktion auch noch den Respekt der ganz Schlimmen ein. Sommerferien im Herbst. Herrlich! Meinen Eltern erzählte ich nichts von dem Verweis. Wozu auch? Jeden Morgen verließ ich die Wohnung, parkte meinen Ranzen wie üblich in einem der umliegenden Treppenhäuser, und los ging’s! Ich hing die Vormittage auf St. Pauli ab.
Ich spazierte durch den Kiez, allein mit meinen wilden, unruhigen Gedanken. Die Straßen, in denen ich noch vor kurzem als braver Butsche in den Hinterhöfen gespielt hatte. Ich wollte kein Butsche mehr sein. Ich wollte mitreden. Ich wollte, dass man mich respektierte, dass mein Name bekannt war. Ich wollte, dass man mich fürchtete. Ich wollte Michel der Breaker sein.
Doch dazu musste ich endlich meine Beißhemmungen loswerden. Ich musste meine Angst, jemandem in die Fresse zu schlagen und ihn dabei zu verletzen, überwinden. Im Kopf hatte ich es schon hundertmal durchgespielt. Auch war ich einige Mal schon kurz davor und auf dem richtigen Weg gewesen. Aber immer, wenn ich kurz davor war, passierte Folgendes: Ich stehe dem Gegner gegenüber. Er ist größer, viel größer. Ich weiß: Ich muss als Erster zuschlagen, damit ich eine Chance habe. Es passiert aber nicht. Ich habe das Gefühl, immer kleiner zu werden. Mein Gegner wird immer größer. Ich will mich bewegen, aber ich kann nicht. Alles passiert in Zeitlupe. Ich will mich bewegen. Ich will ihn nicht zerstören, aber ich will gnadenlos sein. Ich will ihm weh tun. Meine Gedanken sind überall, nur nicht bei der Sache. Wird er noch wütender, wenn ich ihn schlage? Wird er brutal zurückschlagen? Ich muss ihn richtig treffen. Mein Herz rast. Der Weg meiner Faust in sein Gesicht ist lang, so unendlich lang. Ist mein Arm zu kurz? Wird er sich wegducken? Wird er ausweichen? Mein Gegner ist ein Gigant. Er erscheint mir übermächtig. Ich muss alles auf eine Karte setzen. Ich habe nur diese eine Chance. Was ist das, was mich zurückhält? Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, wie es ist, richtig und hart zuzuschlagen. Es ist heldenhaft! Jemanden in den Schwitzkasten nehmen, das kann jeder. Das ist eine sichere Nummer. Das interessiert kein Mädchen, wenn man so kämpft. Das habe ich jahrelang so gemacht. Ich will jetzt endlich zuschlagen. Mein Herz klopft wie verrückt. Meine Beine werden schwach. Ist das die Angst? Wenn ich zuschlage, werden alle staunen! Mein Gegner wird zurückschlagen. Ich weiß es. Sein Blick ist böse. Wie wird es sich anfühlen, wenn ich ihn mit der Faust im Gesicht treffe? Wird es weh tun? Werde ich es tun? Ja, ich tue es! Komm, Michel! Komm, Michel! Sei ein Mann! Ein Breaker! Schlag zu! Schlag zu! Kann meine Faust schneller sein als sein Kopf? Mir ist heiß. Ich habe Fieber. Meine Schläfen pochen. Ich muss mich entscheiden. Ich! Ich muss! Ich atme nicht. Ich erstarre. Ich erstarre … Verdammt!
Meine Gedanken überschlugen sich. Ohne einen richtigen Kampf war ich ein Nichts. Ich lief zur Reeperbahn, wo ich auf Ali, Serkan und Michi traf. Freunde vom Kiez. Keine Schläger. In keiner Gang. Nur Freunde, Mitläufer, Straßenjungs wie ich. Wir quatschten über dies und das, ich prahlte ein bisschen mit der Aktion gegen die Red Tampons. Wir zogen Richtung Hauptbahnhof, als ich bemerkte, dass wir von vier Jungs verfolgt wurden.
»Scheiße«, raunte Ali. »Was machen wir jetzt?«
»Ruhe bewahren«, sagte ich. Die Verfolger kamen näher. Ich hörte ihre Schritte, das Rascheln ihrer Bomberjacken.
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