Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
»Ich hab die Polizei gerufen.«
Für einen Augenblick musste ich grinsen. Er schien zu glauben, dass man uns damit drohen könnte. Aber das interessierte uns nicht im Geringsten. Sollten die doch kommen. Die Schlägerei ging fröhlich weiter. Wir verteilten großzügig Tritte und Schläge. Aber auch die beiden Typen hielten sich nicht zurück. Wir bekamen sie nicht in den Griff. Ali lag am Boden. Seine Nase blutete. Meine Tritte trafen immer wieder auf harte Muskeln, und ich spürte, dass die Typen uns körperlich überlegen waren. Und auf einmal waren da noch drei, vier andere Kerle. Auch sie gingen mit harten Schlägen auf uns los. Einer packte Tom und schlug seinen Kopf gegen einen Stuhl. Ich teilte aus, steckte aber vor allem ein. Da war sie wieder, die Angst.
»Los, wir hauen ab!«, rief Andreas.
Dann sah ich, wie er seine Gaspistole zückte, die er immer bei sich trug, und auf einen der Typen zielte. Im letzten Augenblick richtete er den Lauf auf die Decke. Es knallte. Meine Ohren dröhnten. Ich suchte den Ausgang, den anderen hinterher. Nichts wie weg. Die Typen waren uns auf den Fersen. Wir rannten die Reeperbahn hinunter. Die Typen hinter uns her. Andreas feuerte ein paarmal in die Luft. Dann Blaulicht. Schmiere! Reifen quietschten. Drei, vier Polizeiwagen. Wir wussten, was zu tun war. Wie die Hasen stoben wir auseinander. Ich lief zum Hafen, mein Puls raste. Trotz der Angst, ich fühlte mich lebendig. Oder vielleicht gerade wegen ihr. Ein geiles Gefühl, das mit nichts auf der Welt zu vergleichen war. Ich sah die riesigen Schiffskörper, den Stahl, die Kräne, den Abendhimmel, die Elbe. Sie lag wie eine schwarze Schlange vor mir. Ich sah Möwen, ihr Geschrei brachte meine Nerven zum Glühen. Ich atmete tief ein. Der Sauerstoff erfrischte meine Lungen. Ich fühlte mich frei und geil. Ich war glücklich. Trotz der Gewalt, die ich erlebt hatte. Oder gerade deswegen?
Seit einiger Zeit kam ich immer häufiger ins Grübeln über das Leben, das ich führte. Ich wusste nicht, woher diese Zweifel kamen. Denn eigentlich tat ich das, was ich tun wollte. Ich teilte aus, steckte ein und erkämpfte mir meinen Platz auf St. Pauli. Das Leben auf dem Kiez war hart. Je länger ich es lebte, desto mehr spürte ich, wie stressig so ein Leben war. Tage wie diese waren anstrengend und zehrend, auch wenn sie für kurze Glücksgefühle sorgten. Doch neben dem Glück verspürte ich auch Unruhe. Mein Herz schlug schnell. Meine Finger kribbelten vor Nervosität. Mein Gewissen rief mich immer wieder zur Ordnung. Inzwischen klang es schon wie der Besitzer des Aladin-Kinos, der mich immer wieder davor warnte, dass ich mit den falschen Typen abhing. Doch mich interessierten ganz andere Dinge: Ich überlegte, was in den Köpfen der Luden abging, wie es ist, ständig auf 180 zu sein, wenn Muskeln, Nerven ständig brannten und die Synapsen ununterbrochen feuerten. Es reichte ein Blick, ein Wort, eine Geste, um die Luden zur Explosion zu bringen. Zweifelten diese Männer je an ihrem Leben? Vielleicht taten sie das. Aber für sie war es zu spät. Sie saßen fest, in einem Leben, das sie ausbrannte und verzehrte. Sie lebten in einer Welt, in der nur fades Licht schien. Man konnte es ihnen ansehen. Das Testosteron, der Dauerstress hatte Furchen in ihre Haut geschnitten. Ihre Gesichter waren angespannt, hart und freudlos, auch wenn sie häufig lachten. Aber es war ein gepresstes, ein künstliches Lachen, als würden sie über sich selbst und ihr komisches Leben lachen. Die Luden machten, wenn ich ehrlich war, keinen sonderlich glücklichen Eindruck. Sie wirkten gehetzt, getrieben – wie einsame Wölfe. Wollte ich auch so ein Wolf werden?
18 Wir sind die hungrigen Wölfe
N och heulte ich mit den Wölfen, und ich heulte gern mit ihnen. Wir brüsteten uns damit, wenn wir mit jemandem Streit hatten. Wie die Revolverhelden im Wilden Westen. Aber man musste aufpassen, mit wem man sich anlegte. Denn je älter wir wurden, desto leichtsinniger und mutiger wurden wir und desto näher kamen wir dem Milieu. Die Zeit mit den Champs empfand ich als lustige Zeit. Ich hatte zwar immer wieder Zweifel an meinem Weg. Aber noch ließ ich mich vom Strudel des Gang- und Kiezlebens mitreißen. Es war zu verlockend. Und es war das, was ich kannte und liebte. Die Champs waren eine schlagkräftige, wilde Truppe, die nur jemand wie Eyhan zusammenhalten konnte. Er war unser Chef, eine Autorität, so wie Ümet es für die Breakers gewesen war. Aber Eyhan konnte
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