Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
sehr viel härter als Ümet sein.
Wir trafen uns häufig am Pinnasberg, ein paar Straßen von der Reeperbahn entfernt. Dort standen wir dann herum, quatschten oder zeigten uns gegenseitig unsere Waffen: Schlagringe, Messer (Springmesser und Butterflymesser) und Gaspistolen. Der Waffenwahnsinn, der St. Pauli Mitte der Achtziger veränderte, hatte auch uns erreicht. Es reichte nun nicht mehr, ein guter, brutaler Schläger zu sein. Man musste gut bewaffnet sein, um seinen Mann stehen zu können. Anfangs wollten wir alle Springmesser haben. Solche, wie wir sie aus den James-Dean-Filmen kannten. Später war das Butterflymesser groß in Mode.
Die Kunst bestand darin, das Messer mit einer Hand in drei Bewegungsabläufen aufzumachen. Mit denselben drei Schnappbewegungen klappte man das Messer dann auch wieder zu – und das so schnell, dass man kaum mit den Augen folgen konnte. Einige von uns hatten immer eine kindische Freude daran, sich zu messen, da man stets ein bisschen darauf hoffte, dass der andere sich schnitt.
Aus den Bruce-Lee-Filmen und anderen Eastern hatte ich mir abgeschaut, wie man Chakus benutzte, und über die Jahre selbst viele Chakus gebaut – zwei Holzpflöcke, mit einer Kette verbunden, mit der man seinen Gegner schlagen, aber auch würgen kann. Später kamen die Baseballkeulen auf. Die waren mir zu klobig. Aber Messer aller Art trug ich immer mit mir herum. Die gehörten zur Grundausstattung. Vor allem John Rambos Kampfmesser aus »First Blood« hatte es mir angetan. Es hatte einen Kompass, dazu Nähzeug im Griff, den man abschrauben konnte. Man konnte ja nie wissen, was einem im Dschungel von St. Pauli so alles widerfährt.
Die Waffen versteckte ich unter meinem Bett. Wann immer ich glaubte, sie zu brauchen, kramte ich sie hervor und schaute sie mir ganz genau an. Ich ließ meinen Blick über sie gleiten, als würde ich den Körper einer schönen Frau bewundern. Die Waffen wurden ganz pragmatisch ausgesucht – passend für die Konfrontation und die Klamotten. Es kam die Zeit, da trug jeder ein Messer mit feststehender Klinge am Gürtel.
Nicht jeder in St. Pauli kuschte vor uns Halbstarken. Einmal rief jemand tatsächlich die Polizei, die gleich anrückte und Andreas mit auf die Davidwache nahm. Er hatte eine Gaspistole dabei, griffbereit vorn in der Hose. Als wir davon erfuhren, liefen wir zusammen mit Eyhan und zehn anderen zur Davidwache. Eyhan übernahm das Wort und schaffte es tatsächlich, dass Andreas rauskam. Ich weiß nicht mehr, wie ihm das gelungen ist. Aber er war jemand, der gut und überzeugend reden konnte. Die Polizei schätzte ihn. Das wusste jeder. Vielleicht hatte er irgendwelche Deals mit ihnen laufen. Warum sonst hätten die Polizisten Andreas gehen lassen sollen?
Wie sich eine Woche später herausstellte, war es keine gute Idee gewesen, Andreas herauszuholen: Als er seine Gaspistole ziehen wollte, um jemanden zu beeindrucken, schoss er sich ins Bein. Das ging richtig in die Hose.
Das Gangleben war zwar lustig. Aber es gab eine Menge Regeln, die es zu beachten gab in unserer durchhierarchisierten und vollregulierten Welt. Wer Regeln missachtete, bekam Ärger. Abstrafungsaktionen waren an der Tagesordnung. Mit meiner großen Klappe und meinem Übermut bin ich ein paarmal knapp am Krankenhaus vorbeigeschrammt. Von heute aus betrachtet, war der Druck innerhalb der Gruppe enorm. Ständig musste man sich behaupten – in der Gruppe, außerhalb der Gruppe. Ständig lief man Gefahr, in einen Streit zu geraten. Ständig war man mit der Frage konfrontiert, wie man sich in der Hierarchie nach oben arbeiten konnte. So eine Gang war auch ein Haifischbecken, in dem fast jeder jedem an den Kragen wollte. Wir hielten zwar zusammen. Aber nur für die Gang. Innerhalb der Gang gab es ständige Kämpfe und Konflikte. Wenn du Schwäche zeigtest, wurde das eiskalt ausgenutzt. Da hattest du keine Chance.
Wenn du jahrelang so lebst, bist du irgendwann verbraucht. Du kannst kaum noch normal sein, lebst mit dem ständigen Misstrauen allem und jedem gegenüber. Am Ende bringt dich dieses Lebens um.
Wichtige Regeln in der Gang betrafen den Umgang mit Frauen und mit den Freundinnen der anderen. Wir lebten in einer Männerwelt. Frauen hatten nicht viel zu melden. Außer als Dekoration für den starken Mann, als Objekte unserer Begierde und unseres Eroberungswillens und im Fall der Nutten als Geldquelle. Zärtlichkeiten austauschen war gar nicht drin. Freundinnen von Gangkollegen waren ein
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