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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Mädchen oft gewesen war und wo, wie erzählt wurde, ihr späterer Mann
Antipow als Junge großgeworden war.
    Olja Djomina wandte sich
gönnerhaft-scherzhaft an Doktor Shiwago: »Können Sie wirklich ohne Taschenlampe
weitergehen? Sonst geb ich sie Ihnen mit, Genosse Arzt. Ja. Ich war damals
ernsthaft in Lara verknallt, ich liebte sie besinnungslos, als wir kleine
Mädchen waren. Sie hatten eine Schneiderwerkstatt. Da war ich Lehrling. Ich hab
sie dieses Jahr gesehen. Sie war auf der Durchreise in Moskau. Ich hab zu ihr
gesagt, wo willst du hin, dummes Ding? Bleib doch. Wir könnten zusammen wohnen,
und Arbeit für dich würde ich schon finden. Aber nein! Sie wollte nicht. Ihre
Sache. Sie hat Pawluscha mit dem Kopf geheiratet, nicht mit dem Herzen, seitdem
ist sie ganz verdreht. Sie ist abgereist.«
    »Was halten Sie von ihr?«
    »Vorsicht, es ist glatt hier.
Wie oft hab ich den Leuten gesagt, sie sollen ihr Spülwasser nicht vor die Tür
schütten. Man redet gegen die Wand. Was ich von ihr halte? Was gibt's da zu
halten? Keine Zeit. So, hier wohn ich. Ich hab es vor ihr verborgen, denn ihr
Bruder Rodion war Offizier und soll erschossen worden sein. Aber ihre Mutter,
meine ehemalige Chefin, die werd ich wohl freikriegen, ich will für sie gutsagen.
So, ich muß hier lang. Wiedersehen.«
    Sie trennten sich. Das Licht
ihrer Taschenlampe stieß auf eine schmale Steintreppe und lief voraus,
beleuchtete die verdreckten Wände des schmutzigen Treppenhauses. Der Arzt stand
in der Dunkelheit. Nach rechts ging die Sadowaja-Triumfalnaja, nach links die
Sadowaja-Karetnaja. In der schwarzen Ferne und auf dem schwarzen Schnee
schienen das keine Straßen im Wortsinne zu sein, sondern gleichsam zwei
Waldschneisen in der dichten Taiga der sich hinziehenden steinernen Gebäude,
wie im undurchdringlichen Dickicht des Urals oder Sibiriens.
    Zu Hause war es hell und warm.
    »Warum kommst du so spät?«
fragte Tonja, doch sie ließ ihm keine Zeit zur Antwort und fuhr fort: »Als du
weg warst, ist hier was Kurioses passiert. Ich hatte vergessen, es dir zu
sagen: Papa hat gestern den Wecker kaputtgemacht und war verzweifelt. Die
letzte Uhr im Hause. Er wollte ihn reparieren, hat darin herumgestochert, doch
er ging nicht. Der Uhrmacher an der Ecke verlangt fast drei Pfund Brot, ein
unerhörter Preis. Was tun? Papa hat schon den Kopf hängenlassen. Und plötzlich,
stell dir vor, eine Stunde ist das her, ein durchdringendes, ohrenbetäubendes
Klingeln. Der Wecker! Verstehst du, er geht wieder!«
    »Damit hat meine Typhusstunde
geschlagen«, scherzte Juri und erzählte von der Patientin mit der Spieluhr.
     
    Aber den Typhus bekam er erst
viel später. In der Zwischenzeit lebten die Shiwagos in äußerstem Elend. Sie
litten Not und waren dem Tode nahe. Doktor Shiwago suchte den Parteimann auf,
dem er einmal das Leben gerettet hatte, nachdem dieser beraubt worden war. Er
tat für den Arzt, was er konnte. Aber der Bürgerkrieg hatte begonnen. Juris
Gönner war ständig auf Reisen. Außerdem hielt er entsprechend seinen
Überzeugungen die damaligen Schwierigkeiten für natürlich und verschwieg, daß
er selber hungerte.
    Doktor Shiwago versuchte, sich
an den Lieferanten in der Nähe des Twerskaja-Tors zu wenden. Aber der war in
den vergangenen Monaten spurlos verschwunden, und auch über seine inzwischen
genesene Frau war nichts zu erfahren. Neue Mieter wohnten im Hause. Olja
Djomina war an der Front, und die Hausverwalterin Galiullina traf der Arzt
nicht an.
    Einmal erhielt er eine
Anweisung auf Brennholz zum staatlichen Preis, doch es mußte vom
Windawski-Bahnhof abgeholt werden. Durch die endlose Mestschanskaja-Straße
begleitete er den Fuhrmann und die Mähre, die den unerwarteten Reichtum zog.
Plötzlich merkte er, daß die Mestschanskaja sich veränderte, daß er taumelte
und die Beine ihn nicht mehr trugen. Er begriff, daß es ihn erwischt hatte; es
stand übel - er hatte Typhus. Der Fuhrmann hob den Gestürzten auf. Der Arzt
erinnerte sich später nicht, wie er, schlecht und recht auf das Brennholz
gebettet, nach Hause gebracht worden war.
     
    Zwei Wochen lang phantasierte
er mit Unterbrechungen. In seinen Fieberträumen sah er, wie Tonja die zwei
Sadowaja-Straßen auf den Schreibtisch stellte, links die Sadowaja-Karetnaja,
rechts die Sadowaja-Triumfalnaja, und daß sie die Tischlampe, heiß, leuchtend,
orangefarben, dicht heranrückte. In den Straßen war es hell. Er konnte
arbeiten. Und nun schrieb er.
    Er schreibt mit

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