Boris Pasternak
stört nur die völlige Ungewißheit. Wir stürzen uns mit
zugekniffenen Augen ins Unbekannte und haben nicht die geringste Vorstellung,
wie es dort aussieht. Von den drei Menschen in Warykino leben zwei nicht mehr,
die Mutter und die Großmutter, und der dritte, Großvater Krüger, wenn der noch
lebt, sitzt er als Geisel hinter Gittern.
Im letzten Kriegsjahr hat er
mit den Wäldern und dem Werk irgendwas gemacht, hat sie zum Schein an einen
Strohmann oder eine Bank verkauft oder sie irgendwem überschrieben. Was wissen
wir von dieser Abmachung? Wem gehört das Land jetzt, nicht im Sinne von
Eigentum, zum Teufel damit, aber welche Behörde ist dafür zuständig? Wird Holz
geschlagen? Arbeitet das Werk? Und schließlich, wer ist dort an der Macht, und
wer wird es sein, wenn wir dort sind?
Für euch ist der Rettungsanker
Mikulizyn, dessen Namen ihr so gerne wiederholt. Aber wer sagt euch, daß der
alte Verwalter noch lebt und noch in Warykino ist? Und was wissen wir von ihm,
außer daß Großvater seinen Namen nur mühsam aussprechen konnte? Deshalb haben
wir ihn ja behalten.
Aber wozu streiten? Ihr habt
beschlossen zu fahren. Ich füge mich. Wir müssen herausfinden, wie man das
jetzt macht. Die Sache duldet keinen Aufschub.«
Um sich zu erkundigen, ging
Juri Shiwago auf den Jaroslawler Bahnhof.
Der Strom der Reisenden wurde
durch Holzbarrieren gelenkt, die sich durch die Bahnhofssäle zogen. Auf dem
Steinfußboden lagen Menschen in grauen Mänteln, wälzten sich hin und her,
husteten und spuckten, und wenn sie miteinander sprachen, dann unpassend laut,
ohne an den Widerhall der Gewölbe zu denken.
Es waren zumeist Kranke, die
den Flecktyphus überstanden hatten. Wegen der Überfüllung hatten die
Krankenhäuser sie am Tag nach der Krisis entlassen. Juri als Arzt war dazu auch
schon gezwungen gewesen, aber er hatte nicht gewußt, daß es von diesen
Unglücklichen so viele gab und daß die Bahnhöfe ihnen als Obdach dienten.
»Sie müssen sich einen
Dienstreiseschein besorgen«, sagte ihm ein Gepäckträger mit weißer Schürze.
»Und Sie müssen täglich nachfragen. Züge sind jetzt eine Seltenheit, eine
Zufallssache. Und dann natürlich...« (Der Träger rieb den Daumen am
Zeigefinger) »... Mehl oder so was. Wer nicht schmiert, der nicht fährt. Na,
und dieser hier... « (Er machte die Geste des Glaskippens), »das ist eine
heilige Sache.«
Um diese Zeit wurde Alexander
Gromeko ein paarmal zu Konsultationen in den Obersten Sowjet der
Volkswirtschaft gebeten und Juri Shiwago zu einem schwerkranken
Regierungsmitglied. Beide erhielten ihr Honorar in der für die damalige Zeit
wertvollsten Form - Lebensmittelgutscheine für die erste nichtöffentliche
Verteilstelle. Diese befand sich in den Lagerräumen einer Garnison beim SimonKloster.
Der Arzt und sein Schwiegervater durchquerten zwei Höfe, den der Kirche und den
der Kaserne, und gelangten in die steinernen Gewölbe eines allmählich in die
Tiefe führenden Kellers. Das erweiterte Ende war durch eine lange Barriere
abgeteilt, hinter der der Verwalter, der sich ab und zu entfernte, um Waren aus
dem Lager zu holen, ruhig und gelassen Lebensmittel abwog und herüberreichte,
wobei er mit breitem Bleistiftschwung das schon Ausgegebene von der Liste
strich.
Es waren nur wenige Empfänger
da.
»Ihre Verpackung«, sagte der
Lagerverwalter zu Professor Gromeko und Doktor Shiwago, nachdem er ihre
Gutscheine überflogen hatte. Beide machten große Augen, als er ihnen in die
hingehaltenen Kissenbezüge Mehl und Graupen, Zucker und Makkaroni schüttete,
dazu Speck, Seife und Streichhölzer, dann bekam jeder noch etwas in Papier
Gewickeltes, was sich später zu Hause als kaukasischer Käse erwies.
Schwiegersohn und
Schwiegervater beeilten sich, ihre vielen kleinen Bündel in zwei großen Rucksäcken
zu verstauen, um nicht mit Getrödel den Lagerverwalter zu verärgern, der sie
mit seiner Großmut beglückt hatte.
Sie stiegen aus dem Keller an
die frische Luft und waren wie berauscht, nicht von animalischer Freude,
sondern von dem Bewußtsein, daß sie nicht umsonst lebten, sondern zu etwas gut
waren und sich zu Hause bei der jungen Hausfrau Tonja Lob und Anerkennung
verdienen würden.
Während die Männer die
Behörden abklapperten, um
Dienstreisescheine und Wohnungsbestätigungen für ihre Zimmer zu erhalten, war
Tonja mit der Auswahl der Gegenstände beschäftigt, die eingepackt werden
sollten.
Sorgenvoll ging sie immer
wieder durch die drei Zimmer, die
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