Boris Pasternak
sich selber was suchen, dafür geben wir
zwölf Monate Zeit.«
»Wer ist denn bei uns nicht
werktätig? Solche gibt's gar nicht! Alle sind werktätig«, rief es ringsum, und
eine Stimme überschlug sich förmlich: »Das ist ja Großmachtchauvinismus! Jetzt
sind alle Nationalitäten gleich. Ich weiß schon, worauf Sie anspielen!«
»Nicht alle auf einmal! So
weiß ich nicht, wem ich antworten soll. Was für Nationalitäten? Was soll das
mit den Nationalitäten, Bürger Waldyrkin? Die Chrapugina zum Beispiel ist
überhaupt keine Nationalität, und die wird auch umquartiert.«
»Versuch's nur! Das möchte ich
sehen, wie du mich umquartierst! Du durchgelegene Matratze! Du mit deinem
Dutzend Posten!« schrie die Chrapugina, und es waren unsinnige Schimpfworte,
die sie der Delegierten im Eifer des Gefechts an den Kopf warf.
»Diese Schlange! Die
Schaitanin! Du kennst wohl gar keine Scham!« rief die Hausmeisterin empört.
»Misch dich nicht ein, Fatima.
Ich kann für mich einstehen. Laß das sein, Chrapugina. Wenn man dir die Leine
locker läßt, springst du einem ins Genick! Halt den Mund, sag ich dir, sonst
übergebe ich dich den Organen, ohne abzuwarten, bis sie dich beim
Schnapsbrennen und wegen Spelunkenhaltung erwischen.«
Der Lärm erreichte seinen
Höhepunkt. Die Leute ließen keinen zu Wort kommen. In diesem Moment betrat der
Arzt den Raum. Er bat den erstbesten an der Tür, ihm jemand vom Hauskomitee zu
bezeichnen. Der legte die Hände als Sprachrohr an den Mund, um Lärm und
Geschrei zu übertönen, und rief silbenweise: »Ga-li-ul-lina! Komm her, du wirst
verlangt.«
Der Arzt traute seinen Ohren
nicht. Eine hagere, etwas gebeugte Frau, die Hausmeisterin, trat zu ihm. Der
Arzt staunte über die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn. Aber er gab sich
noch nicht zu erkennen. Er sagte: »Eine Mieterin Ihres Hauses« (er nannte den
Namen) »ist an Typhus erkrankt. Vorsichtsmaßnahmen sind notwendig, damit sich
die Epidemie nicht ausbreitet. Außerdem muß die Patientin ins Krankenhaus
geschafft werden. Ich schreibe hier eine Bescheinigung, die vom Hauskomitee
beglaubigt werden muß. Wie und wo kann ich das tun?«
Die Hausmeisterin verstand ihn
so, daß ihn vor allem die Transportmöglichkeit interessierte.
»Eine Droschke vom
Stadtbezirkssowjet kommt nachher die Genossin Olja Djomina abholen«, antwortete
sie. »Die Genossin Djomina ist hilfsbereit, und wenn ich's ihr sage, tritt sie
die Droschke ab. Keine Sorge, Genosse Arzt, wir schaffen deine Kranke hin.«
»Oh, das meine ich nicht! Ich
fragte nach einem Winkel, wo ich den Einweisungsschein schreiben kann. Aber
wenn sogar eine Droschke kommt... Entschuldigen Sie, sind Sie nicht die Mutter
von Oberleutnant Galiullin, Jussup Himasetdinowitsch? Ich war mit ihm an der
Front.«
Die Hausmeisterin fuhr heftig
zusammen und erbleichte. Sie nahm den Arzt bei der Hand und sagte:
»Kommen Sie mit raus. Auf dem
Hof können wir reden.«
Kaum waren sie über die
Schwelle, sagte sie rasch: »Still, keiner darf hören, Gott behüte. Verderbe
mich nicht. Jussup schlechten Weg gegangen. Sag selber, wer ist Jussup? Jussup
ist Lehrling, Fabrikarbeiter. Jussup muß verstehen, einfache Volk jetzt viel
besser leben, das sogar ein Blinder sehen, man kann nicht streiten. Ich weiß
nicht, wie du denkst, aber was du kannst, ist bei Jussup Sünde, Gott nicht
verzeihen. Vater von Jussup Soldat, gefallen, aber so, daß kein Gesicht mehr,
keine Arme und Beine.«
Sie hatte nicht die Kraft
weiterzusprechen, machte eine Handbewegung und wartete, bis ihre Erregung sich
gelegt hatte. Dann fuhr sie fort: »Komm. Ich geb dir jetzt die Droschke. Ich
weiß, wer du bist.
Mein Sohn war zwei Tage hier,
er hat erzählt. Er sagt, du kennst Lara Guichard. Das war ein gutes Mädchen.
Ich erinnere, sie hat uns hier oft besucht. Wie mag sie jetzt aussehen, wer
weiß. Ist es möglich, daß Herren gegen Herren kämpfen? Bei Jussup ist es Sünde.
Komm, wir fragen nach der Droschke. Genossin Djomina gibt sie uns. Weißt du,
wer das ist? Olja Djomina, sie hat bei Lara Guichards Frau Mutter in der
Schneiderei gearbeitet. Das ist sie. Auch von hier. Von diesem Hof. Komm.«
Es war schon ganz dunkel.
Ringsum stand die Nacht. Nur der helle Lichtfleck von Olja Djominas
Taschenlampe sprang fünf Schritt vor ihnen von Schneewehe zu Schneewehe und
störte mehr, als daß er den Weg zeigte. Ringsum stand die Nacht, und hinter
ihnen blieb das Haus zurück, wo so viele Menschen Lara kannten, wo sie als
kleines
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